Nr. 2/2018

VOICE: Betroffenen eine Stimme geben

Mit dem Projekt „VOICE“ setzt das Institut für Soziologie und Genderforschung seine Arbeit zur sexualisierten Gewalt im Sport fort. Auf der Basis von Erfahrungsberichten Betroffener werden Umstände erkennbar, die Übergriffe begünstigen. Und es entstehen Bildungsmaterialien, die zur Aufklärung und zur Vorbeugung beitragen sollen.

Derzeit vergeht fast kein Tag, ohne dass die großen Medien an prominenter Stelle neue Wendungen, Enthüllungen, Prozesse oder Erfahrungsberichte über sexualisierte Gewalt publizieren. Die „#MeToo“-Bewegung verliert nicht an Fahrt, und längst hat auch der Sport begonnen, sich intensiv mit diesem Problem zu befassen. „Ich denke, dass die Zeit reif ist. Die Gesellschaft, viele Organisationen und die darin handelnden Personen wollen dieses Thema nicht weiter tabuisieren“, sagt Dr. Bettina Rulofs vom Institut für Soziologie und Genderforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln, wo im vorigen Jahr das viel beachtete Projekt »SafeSport« abgeschlossen wurde. Die ForscherInnen fanden heraus, dass 37 Prozent der befragten Leistungssportlerinnen und -sportler in ihrer Karriere eine Form von sexualisierter Gewalt und Belästigung im Sportumfeld erfahren haben. Mitte des Jahres werden nun die Ergebnisse eines weiteren Projektes namens „VOICE“ veröffentlicht, das sich sehr konkret den Schicksalen betroffener Athletinnen und Athleten zuwendet. Das von der EU geförderte Projekt findet in sieben Ländern statt und wird an der Deutschen Sporthochschule Köln geleitet.  

Rund 70 Betroffene, die Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht haben, berichteten in tiefgehenden Interviews – oftmals über viele Stunden – ausführlich von ihren Erlebnissen, was einen tiefen Einblick in die Bedingungen ermöglicht, die sexuelle Übergriffe im Sportkontext begünstigen. „Wir stellen fest, dass die Strukturen, in denen das passiert, oft durch ein ganz enges Zusammenspiel von Sport und privatem Umfeld gekennzeichnet sind“, berichtet Rulofs. „Immer wieder zeigen die Interviews, dass Täter eng mit der Familie der Betroffenen verbunden sind, zum Beispiel der gute Freund der Mutter, der wiederum Trainer des missbrauchten Sohnes ist.“ In solchen Konstellationen werden Hinweise und Hilferufe häufig ignoriert oder nicht ernst genommen.

Darüber hinaus erkennen junge Menschen nicht unbedingt sofort in voller Klarheit, dass sie ein Missbrauchsopfer sind. „Der Sport mit seiner Ausrichtung auf hartes Training erzeugt mitunter ein Klima, wo die Betroffenen bereit sind, ganz viel hinzunehmen“, sagt Rulofs. Kinder und Jugendliche glauben unter diesen Bedingungen, dass es „dazu gehört, wenn ein strenger Trainer auch mal übergriffig wird, als Autorität verfügt er über eine Disziplinierungsmacht, der sich die Betroffenen nur schwer entziehen können“.  Aus solchen Erkenntnissen, die die Deutsche Sporthochschule Köln in Kooperation mit sechs anderen Universitäten gewonnen hat, werden in einem nächsten Schritt Vorbeugungs- und Schutzmaßnahmen entwickelt.

Auf der Basis der Interviews werden Lehrmaterialien entwickelt, so entstehen beispielsweise Filme, die in der Trainerausbildung verwendet werden können. Außerdem fordern die Verbände ihre Basis dazu auf, sensibler auf Hinweise und Gerüchte zu reagieren, statt Andeutungen und Symptome zu ignorieren. Und nicht zuletzt finden so genannte „Acknowledgement Forums“ statt, in denen Betroffene zwar in einem geschützten Raum, aber doch vor Publikum von ihren Erlebnissen erzählen. Zu diesen Hearings werden Politikerinnen und Politiker und Verantwortliche aus Vereinen und Verbänden eingeladen, um ein Gefühl für die Bedeutung des Themas vermittelt zu bekommen. „Niemand im Publikum kann sich verschließen, wenn Betroffene von ihren Missbrauchserfahrungen berichten und schildern, welche Auswirkungen dies auf ihr Leben hat“, erzählt Rulofs. Und bei den Betroffenen von Gewalt erzeugt das Sprechen über die traumatischen Erlebnisse oftmals ein Gefühl der Befreiung. Das Sprechen und Anhören stärkt auf diese Weise sowohl die Betroffenen als auch die Sportorganisationen bei der Aufarbeitung.

Neben der Analyse persönlicher Geschichten hat das Projekt aber auch zum Ziel, Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt in unterschiedlichen europäischen Ländern zu vergleichen. „Eine erste Erkenntnis war, dass wir das Projekt in Ungarn nicht realisieren konnten. Anscheinend sind die gesellschaftlichen Bedingungen dort noch andere, denn die ungarische Partnerin konnte zum Beispiel keine Verbände finden, die das Projekt unterstützen wollten“, berichtet Rulofs. Ansonsten beteiligen sich an dem Projekt Hochschulen, Sport- und Opferschutzorganisationen aus Slowenien, Dänemark, Österreich, Belgien, Spanien, England und Deutschland.

Am 4. und 5. Mai wird „VOICE“ nun in Bergisch Gladbach mit einer Abschlusskonferenz enden, aber das Thema wird die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiterhin beschäftigen. Vieles deutet darauf hin, dass sexualisierte Übergriffe auch im Alltag der Menschen im Breitensport stattfinden, bisher hat die Forschung sich aber fast ausschließlich mit den Erfahrungen im Leistungssport befasst. Und nicht zuletzt zeigen die internationalen Vergleiche, die im Rahmen von „VOICE“ gezogen wurden, dass Deutschland mit seiner DDR-Vergangenheit eine Sonderrolle zufällt. „Dort gab es die Kinder- und Jugendsportschulen. Auch aus dieser Zeit haben sich Opfer von Gewalt und Machtmissbrauch bei uns gemeldet“, sagt Rulofs. Die Doping-Vergangenheit der DDR sei zum Teil aufgearbeitet worden, die Fälle von emotionaler, körperlicher und sexueller Gewalt, die in diesem Umfeld stattgefunden haben, sind dagegen weitgehend unerforscht.

Text: Daniel Theweleit

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