Nr. 7/2017

Körperliche Aktivität in der virtuellen Realität

Fliegen gilt als eine der größten Sehnsüchte der Menschheit. Es hat die Menschen schon immer fasziniert. Sagen und Legenden erzählen von Menschen, die durch die Luft fliegen, z.B. Ikarus mit seinen selbst gebastelten Flügeln, der allerdings angeblich der Sonne zu nah kam und abstürzte. Kein Wunder also, dass der Traum vom Fliegen in der Kunstwelt schon längst Wirklichkeit geworden ist, wo er doch in der Realität oft Sehnsucht bleibt. Daher ist es auch kein Zufall, dass ein neues Fitnessgerät den Namen Icaros trägt und damit an den tragischen Helden der Sage erinnert. Die Rede ist von Fitnesstraining in der virtuellen Realität.

Dominik liegt in Bauchlage waagerecht in einem frei schwingenden Metallgestell, Oberschenkel und Unterarme sind abgestützt, durch Verlagerung des Körperschwerpunktes kann er seinen Körper in alle Richtungen bewegen. Die Bewegungssensoren des Gestells erfassen die Richtungsänderungen und übersetzen diese in die künstliche Welt. Auf dem Gesicht trägt Dominik eine Virtual-Reality-Brille und auf einem großen Bildschirm ist die Traumwelt zu sehen, in der er sich gerade befindet: Dominik fliegt in einer Art Jet durch eine Berglandschaft, mit dem ganzen Körper werden die Flugbewegungen ausbalanciert. Das erfordert Gleichgewichtssinn und Muskelkraft – Icaros soll eine Mischung aus Flugsimulator und Fitnessgerät sein.

Ein Münchener Startup-Unternehmen brachte vor kurzem dieses Fitnessgerät auf den Markt, welches mit Smartphone, Headset und Metallgestell den Traum vom Fliegen verwirklicht – jedenfalls virtuell. Die Fitnessmesse FIBO verlieh der Idee den FIBO Innovation & Trend Award 2016. Ob das Gerät tatsächlich zum Fitnesstraining taugt und ob es vielleicht sogar zu Präventionszwecken eingesetzt werden kann, untersucht derzeit eine Studie an der Deutschen Sporthochschule Köln unter Leitung von Dr. Boris Feodoroff, Abteilung Bewegungsorientierte Präventions- und Rehabilitationswissenschaften. Im Rahmen der Studie absolvieren 30 Probanden Flüge auf dem Icaros und liefern verschiedene Daten. Die ersten Ergebnisse liegen bereits vor. Die Idee der Firmengründer: Icaros könne möglicherweise die Arbeit in Reha-Kliniken unterstützen, etwa bei der Mobilisierung von Schlaganfallpatienten oder bei der Physiotherapie von Sportlern. Erste Anwendungs- und Trainingsmöglichkeiten prüft die derzeitige Studie von Feodoroff und dessen Projektmitarbeiter Ippokratis Konstantinidis.

Die Grundidee des Icaros ist, die statische Übung des Unterarmstützes (Plank) dynamischer zu gestalten und auf diese Weise verschiedene Muskelgruppen effektiv zu kräftigen und somit den Rumpf zu stabilisieren. Um den Grad der Muskelaktivierung zu bestimmen, nutzen Feodoroff und Konstantinidis die Methode der Elektromyografie, d.h. den Probanden werden Elektroden an vier Muskelpaaren (Bauch, Rücken, Schultern, Nacken) aufgebracht, die die Aktivierung der Muskelfasern während des Fluges messen. Auch die Herzfrequenz wird erhoben. Eine weitere Fragestellung der Studie betrifft die so genannte Motion Sickness. Gemeint ist das Auftreten von Übelkeit, Schwindel, Unwohlsein oder Desorientierung, welches häufiger bei Virtual Reality-Spielen vorkommt. „Die Idee des Icaros ist, echte körperliche Aktivität mit Virtual Reality zu verbinden, sprich eSports im wortwörtlichen Sinne“, sagt Feodoroff.

Betrachtet man Proband Dominik bei seinem virtuellen Flug durch die Bergwelt, lässt sich erahnen, dass die Bewegungssteuerung auf dem wackligen Gerät durchaus anspruchsvoll und anstrengend ist. Sein virtuelles Flugobjekt steuert er durch einen Parcours aus Ringen; er muss das Trainingsgerät durch die Verlagerung des Körperschwerpunktes immer wieder neu ausrichten. Dies spiegelt sich in den erhobenen Daten wieder. Zwar wird weniger das Herzkreislaufsystem belastet (die Herzfrequenz steigt im Durchschnitt auf 110 an), stattdessen werden insbesondere die Muskeln der Körperrückseite aktiviert. „Anhand unserer Daten können wir zeigen, dass ein Rumpfkrafttraining mit dem Gerät möglich ist. Vor allem die dorsale Muskelkette, also Nacken, Schultern und Rücken, wird gut beansprucht“, erläutert Feodoroff die ersten Ergebnisse, die als Referenzwerte dienen sollen.

Den Einsatz des Geräts in der Physiotherapie hält er aber noch für schwierig. Für ihn könne Icaros in erster Linie einen Motivationsschub für Personen geben, die ihre Rumpfkraft spielerisch trainieren wollen. Vor allem im Bereich der Lendenwirbelsäule sieht er Potenzial. Die durchschnittliche Muskelaktivität der Rückenmuskulatur bei der Nutzung des Icaros beläuft sich auf bis zu 32% der Maximalkraft, ein ebensolcher Wert wird für die Nackenmuskulatur gemessen. Durch weitere technische Verbesserungen, z.B. eine höhere Bildauflösung, ließe sich wahrscheinlich auch die Häufigkeit der Motion Sickness senken. Aus gesundheitlicher Sicht hält Feodoroff die dynamische Ganzkörperaktivierung in der virtuellen Realität für einen vielversprechenden Ansatz. Die Stärken und Schwächen des Icaros zu identifizieren und die Trainingsidee weiterzuentwickeln, sind weitere Ziele.

Text: Julia Neuburg

Kontakt

Dr. Boris Feodoroff ist seit Oktober 2022 nicht mehr an der Deutschen Sporthochschule Köln beschäftigt.