Nr. 5/2019

„Sich konkreten Fragen der Praxis widmen und von dort aus zeigen, was Wissenschaft kann.“

Univ.-Prof. Dr. Swen Körner war selbst jahrelang aktiver Kampfsportler, mehrfacher Deutscher Meister und Vize-Europa Cup Sieger im Taekwondo, Mitglied der Nationalmannschaft und Trainer, bis sich sein Interesse auch der Selbstverteidigung zuwandte. Er ist Sportwissenschaftler, hat mit einer sozialwissenschaftlichen Arbeit über „Dicke Kinder“ promoviert und leitet aktuell zahlreiche Forschungsprojekte mit starkem Anwendungsbezug, u.a. in Kooperation mit Polizei und Rettungsdiensten. Zudem ist er leidenschaftlicher Fan von Actionfilmen, Comics und Comicverfilmungen mit Superhelden. Was das mit seiner Forschung zu tun hat, welcher sein liebster Superheld ist und warum er manchmal vor Gericht steht, erklärt er im Interview mit FORSCHUNG AKTUELL.

Herr Körner, Sie sind seit dem 1. August Leiter der neu gegründeten Abteilung ‚Trainingspädagogik und Martial Research‘ der Deutschen Sporthochschule Köln. Was hat es damit auf sich?

Kampfsport, Kampfkunst und Selbstverteidigung sind in Deutschland zunehmend populär geworden. Im Unterschied zu den klassischen Sportarten findet man hier allerdings ein sehr differenziertes Feld mit mehreren hundert verschiedenen Stilen und Praktiken aus allen Teilen der Welt. Trotz wachsender Popularität gibt es in Deutschland wie auch international noch relativ wenig Forschung zu der Thematik und wenige Strukturen, die die Forschung in dem Bereich unterstützen.

Und das ändert sich jetzt mit der neuen Abteilung?

Der neuen Abteilung kommt meiner Meinung nach ein gewisses Alleinstellungsmerkmal zu. Es freut mich sehr, dass das Rektorat der Sporthochschule meinen Vorschlag positiv aufgenommen und umgesetzt hat. Das zeigt, dass das Forschungsfeld für die Deutsche Sporthochschule ein wichtiger Bereich ist und in der Zukunft sein wird – also ein klares Signal nach außen und nach innen und auch ein starkes Signal in die Praxis.

Was ist das Alleinstellungsmerkmal?

Die Abteilung wird sich schwerpunktmäßig mit der Bedeutung von Kampfsport, Kampfkunst und Selbstverteidigung beschäftigen, und zwar in unterschiedlichen gesellschaftlichen und institutionellen Settings. Einerseits ist damit der organisierte Sport gemeint. Gleichzeitig findet das Kämpfen in hochspezialisierten Professionen statt, zum Beispiel bei Polizei und Sicherheitsdienstleistern oder auch im Kontext ziviler Selbstverteidigung. Kämpfen ist die Extremform zwischenmenschlicher Interaktion.

Die Abteilung will sich sowohl mit empirisch-sozialwissenschaftlichen Forschungsfragen als auch mit Anwendungsforschung befassen. Was wäre ein Beispiel für ein Forschungsprojekt mit konkretem Praxisbezug?

Seit einigen Jahren begleiten wir die Arbeit der Polizei – wir, das sind Mario Staller, Professor für Polizeiwissenschaft an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW, und ich. Wir gucken uns hier konkret die Einsatztrainings an und stellen trainingspädagogische Fragen, sprich: Wie gelingt es, dass die Polizistinnen und Polizisten im Training die Fertigkeiten erwerben, die sie dann im Einsatz gebrauchen und anwenden können. Aktuell führen wir ein groß angelegtes Projekt mit der Bundespolizei durch, in dem wir erstmals in Deutschland die Gewaltdynamiken im Einsatz von Polizist*innen erforschen: Was habt Ihr erlebt? Welche Art von Konflikt lag vor und wie kam es dazu? Wie ist der Konflikt abgelaufen und ausgegangen? Zudem analysieren wir Videomaterial, das über die Bodycams der Polizist*innen aufgezeichnet wurde. Auf diese Weise schauen wir uns mikrosoziologisch die Grammatik von gewaltförmigen Konflikten an und analysieren die Bedeutung von Verhaltensweisen, Worten und Gesten für die Entstehung oder Nichtentstehung von Gewalt. Die videobasierte Analyse von Konfliktsituationen ist auch das Thema eines aktuell bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft beantragten Projekts zur Gewalt gegen Rettungskräfte. Es ist ein guter und wichtiger Ansatz für die Sporthochschule, sich konkreten Fragen der Praxis zu widmen und von dort aus zu zeigen, was Wissenschaft kann.

Diesen Praxisbezug wollen Sie mit dem Begriff Trainingspädagogik verdeutlichen, oder?

Genau, wir behandeln Fragen und Probleme, die sich aus der Praxis ergeben, zum Beispiel Fragen, die Einsatztrainer haben oder Probleme, die Polizisten uns schildern. Den Begriff Trainingspädagogik gilt es dabei, weiter zu schärfen. Wir verstehen darunter die konkreten praktischen Fragen der Konzeption, Durchführung und Evaluation sowie die reflexive Analyse von Vermittlungsprozessen in unterschiedlichen Lehr- und Lernsettings. Trainingspädagogik ist überall dort gefragt, wo Vermittlung stattfindet. Was führt zu einem effizienteren Fertigkeitserwerb? Welche didaktischen Strategien motivieren die Leute? Das sind alles Fragen, die ich mit dem Begriff der Trainingspädagogik meine.

Können Sie auch ein Beispiel für eine empirisch-sozialwissenschaftliche Forschungsfrage spezifizieren?

Ein Thema, das wir gerade empirisch-sozialwissenschaftlich bearbeitet haben, ist die Karriere des Krav Maga, ein militärisches Nahkampfsystem, das ursprünglich aus Israel stammt, aber weltweit eine enorme Popularität erreicht hat. Mittlerweile macht jeder Hollywoodstar Krav Maga, und wir haben uns die Frage gestellt, warum das so angesagt ist. Letztlich haben wir den Erfolg und die Verbreitung von Krav Maga als Kommunikationserfolg rekonstruiert. Eingebettet in diese Forschungsfrage war unter anderem der spannende Aspekt, dass Krav Maga auch bei modernen Dschihadisten sehr beliebt ist. Hier zeigt sich die starke kulturell-normative Ambivalenz, die das Kämpfen insgesamt durchzieht: Nicht nur die ‚Guten‘ kämpfen. Kämpfen ist ebenso Teil einer ‚Pädagogik des Terrors‘. Am Beispiel des Krav Maga kann man zudem lernen, wie modern der islamistische Terrorismus ist. Er ist offen für alles, was ‚funktioniert‘, selbst wenn es vom Erzfeind kommt.

In Ihrem Lebenslauf steht, dass Sie auch ‚Court ordered expert‘ sind. Was bedeutet das?

Bei Gericht bin ich zumeist als Gutachter tätig. Häufig geht es hier um Notwehr- und Körperverletzungsdelikte oder Trainingsunfälle, zum Beispiel, wenn sich ein Teilnehmer während eines Kampfsporttrainings verletzt oder es bei Polizeieinsätzen zu Delikten kommt, die strafrechtlich relevant werden. Auch Versicherungen kommen zunehmend auf mich zu, zum Beispiel, wenn sie für die Kalkulation ihrer Policen für bestimmte Kampfsportarten oder Selbstverteidigungsstile, die die Antragsteller betreiben, Unterstützung bei der Risikobewertung benötigen.

Wie sehen die Aktivitäten der Abteilung in der Lehre aus?

Unsere Abteilung hat einen starken Praxisbezug. Wir sind vor allem in der Lehramtsausbildung aktiv, im Bachelor müssen zum Beispiel alle Lehramtsstudierenden den Bereich Ringen und Kämpfen belegen. Wir haben mittlerweile auch einige Spezialisierungen, zum Beispiel für Judo und Boxen, und wir sind außerhalb des Lehramtsstudiums mit einer Profilergänzung und einer Profilvertiefung unterwegs.

Gibt es weitere Pläne für die Lehre?

Wir hoffen, dass wir das Engagement in der Lehre weiter ausbauen können, und zwar nicht nur für die Praxis. Unser Forschungsfeld ist auch ein attraktives und wichtiges Thema für kulturwissenschaftlich orientierte Veranstaltungen. Denn: Kampfsportarten und Selbstverteidigung sind global expandierende Phänomene mit massiver Bedeutung für Individuum und Gesellschaft. Das sehen wir zum Beispiel an modernen Comichelden und Actionfilmen: Es gibt ja keinen Actionstreifen oder Krimi, in dem nicht auch irgendwie gekämpft wird.

Apropos Comics: Stimmt es, dass Sie sich bereits wissenschaftlich mit Batman auseinandergesetzt haben?

Das ist richtig, wir haben die kämpferische Entwicklung von Batman von den Anfängen bis zur Gegenwart analysiert, und zwar sowohl in den Comics als auch in den Verfilmungen. Daran lässt sich sehr schön ablesen, dass die Comic- und Filmproduktion immer ein Spiegelbild der aktuellen Gesellschaft ist. In den 1960er Jahren hat Batman nur mit der groben Kelle rechts geschlagen, war also offensichtlich inspiriert durchs Boxen. Heutzutage sieht man bei ihm sehr deutlich die Einflüsse von populären Stilen. Batman kämpft variabel und sehr funktional. Gerade hat ein Student bei mir eine Abschlussarbeit über die Prozesse der sozialen Stigmatisierung am Beispiel der Xmen geschrieben. Comics zeigen Inklusions- und Exklusionsdynamiken und den gesellschaftlichen Umgang damit. Die angesprochene Arbeit hat am Ende sogar einen konkreten Unterrichtsentwurf entwickelt – eine tolle Idee, um sich dem Thema Inklusion in der Schule zu widmen. Der Lebensweltbezug von Comics für Schüler*innen und Studierende ist nicht zu unterschätzen.

Sie kommen selbst aus dem Kampfsport, haben viele Jahre lang Vollkontakt-Taekwondo praktiziert, dann aber auch Ihr Interesse an der Selbstverteidigung entdeckt. Was reizt Sie daran?

Kämpfen ist eine direkte und in gewisser Weise sehr ehrliche Form der sozialen Begegnung. Man spürt die Folgen der Handlung unmittelbar. An der Selbstverteidigung – ich selbst praktiziere und unterrichte Krav Maga, Wing Chun und Urban Combatives – fasziniert mich, dass sie einen ganz anderen Zweck verfolgt als der Kampfsport. Es geht nicht um Punkte, Siege und Pokale, sondern um das Sich-Verteidigen. Selbstverteidigung beginnt allerdings nicht mit Schlagen und Treten, sondern mit der Wahrnehmung der Situation, dem eigenen Auftreten, dem Reden und Zuhören. Es existiert immer eine Vorgeschichte, bevor es überhaupt zur Verteidigung kommt.

Batman haben Sie schon angesprochen. Ist er Ihr Favorit unter den Superhelden?

Generell bin ich da eher breit aufgestellt, aber Batman, Spiderman und Deadpool gehören zu meinen Favoriten. Als Kind war es auf jeden Fall Spiderman; als innerweltlicher Held ist es Batman, weil er sich – abgesehen von seiner Kohle – alles selbst erarbeiten muss, und das tut er gerade im Hinblick aufs Kämpfen. Deadpool schätze ich als reflexiven Ironiker: ‚Mit großer Kraft kommt großer Zufall‘ – das scheint mir diagnostisch nicht ganz unzeitgemäß. Die moderne Gesellschaft braucht Held*innen!

Interview: Julia Neuburg