(Un-)tragbar für den Sport?

Fast alle nutzen sie – nur wenige kennen ihre Algorithmen: Wearables sind aus dem Spitzen- und Freizeitsport nicht mehr wegzudenken. Wie präzise sind ihre Daten, und welche Fragen werfen sie auf?

Ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, es ist das Jahr 2028. Bei den Olympischen Sommerspielen in Los Angeles sind 35 Grad angekündigt. Die Läufer*innen des Marathons starten zwar früh morgens, aber schon auf der Hälfte der Strecke merkt man ihnen an, dass sie heute über ihre Leistungsgrenze hinaus gehen werden. Das sehen auch ihre Trainer*innen. Nicht im Gesicht der Athlet*innen, nicht an ihrer Körperhaltung, sondern am Bildschirm. Denn alle Sportler*innen tragen Wearables, die live medizinische Daten übermitteln: Pulsgurte um die Brust, Blutglucose-Sensoren auf der Haut oder Temperatur-Messkapseln im Darm. Die Trainer*innen am Bildschirm sehen in Echtzeit, wann die Energiereserven schwinden oder Überhitzung droht. 2028 geben Sensoren den Takt vor.

Allzu weit entfernt sei dieses Gedankenexperiment nicht, sagt PD Dr. Moritz Schumann vom Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin. An der Deutschen Sporthochschule Köln forscht er zur sogenannten Wearable-Technologie. Das sind all die kompakten technischen Hilfsmittel, die seit einigen Jahren Einzug in den Spitzen- und Freizeitsport gehalten haben. Ob Multi-Sport-Uhr, die Auskunft über Geschwindigkeit, Stresslevel, Energieverbrauch und Trainingszustand gibt, oder Glucose-Sensor: Wer möchte, kann den eigenen Körper mittlerweile Tag und Nacht überwachen, die Daten auf dem Smartphone speichern, auswerten und mit andern teilen. PD Dr. Moritz Schumann erforscht, wie präzise diese Daten sind, für welche wissenschaftlichen Fragestellungen man sie nutzen könnte und wo Probleme bestehen. Er möchte die Algorithmen der Wearables verstehen, sie sportwissenschaftlich überprüfen und die Daten transparent zugänglich machen. Denn gerade in Sachen Transparenz gibt es Nachholbedarf. Aber dazu später. „Angefangen hat alles mit den sogenannten Herzfrequenz-Monitoren und Pedometern, den Vorläufern von Pulsuhren und Schrittzählern“, sagt Schumann. Der junge Wissenschaftler ist sportlich, hat während seiner aktiven Zeit im Laufsport selbst intensiv Wearables genutzt, seine Leistungsparameter überwacht und ausgewertet. Heute trackt er gar nichts mehr (dazu mehr im Interview). In der Anfangsphase, erzählt Schumann, seien die Geräte nicht – wie heute – schick und komfortabel gewesen, sondern eher klobig. Kaum eines hatte ein Display. Um die Daten auszulesen, mussten sie an den Computer angeschlossen werden.

Wearables, sagt er, wurden ursprünglich für einzelne, präzise Fragestellungen in der Forschung entwickelt – nicht, um sie für verschiedenste Sportarten im Freizeit- und Breitensport einzusetzen. Weil immer mehr Menschen aber Interesse daran entwickelt haben, ihre sportliche Leistung oder ihr Bewegungsverhalten zu messen, wurden die Geräte für die breite Masse und für verschiedene Trainingsszenarien zugänglich gemacht. „Firmen haben die Technologien übernommen, weiterentwickelt und dann in kostengünstigere Settings kopiert, um einen möglichst großen Kundenstamm zu erreichen“, sagt Schumann. Aus den hochpräzisen wissenschaftlichen Instrumenten haben sie Multifunktions-Tools gemacht, die suggerieren, unterschiedlichste Daten präzise erheben zu können. Ob Puls, Sauerstoffsättigung, Geschwindigkeit, Stresslevel, Trainings- oder Erholungszustand: Ein einziges Gerät soll diese Werte in jeglicher Sportart ermitteln können. Auf ihre Datenqualität und Präzision hin überprüft oder „validiert“, wie es in der Forschung heißt, sind sie häufig nicht.

Am Beispiel der Herzfrequenz, die die meisten Wearables über ein optisches Signal am Handgelenk messen, macht PD Dr. Moritz Schumann deutlich, wie fehleranfällig Geräte sein können: „Der Algorithmus, der hinter einer Messung steht, ist für die Nutzer*innen nicht transparent. Bei einem Herzfrequenzsensor am Handgelenkt werden beispielsweise nur ungefähr 50 Prozent der Daten wirklich gemessen. Der Rest ist abgeleitet aus hochgerechneten Vorhersagen und das bedeutet sehr viel Raum für Abweichungen.“ Auch je nach Sportart variiere die Präzision. Während bei gleichmäßigen Bewegungen wie Joggen oder Radfahren präzise Werte abgeleitet werden können, kommen die Uhren bei Sportarten mit vielen Richtungsänderungen oder hohen Intensitäten an ihre Grenzen. „Beim Krafttraining mit vielen Bewegungen über dem Kopf oder beim Dribbeln im Basketball erzielen Wearables oft schlechte Werte. Aber auch beim Radfahren kommt es auf die Handstellung an, ob die Uhren ein gutes Signal empfangen“, sagt Schumann. Ob das Wearable – in dem Fall eine Uhr – gerade ein gutes Signal empfängt oder ein schlechtes hochrechnet, ist für die Nutzer*innen derzeit nicht ersichtlich. Da Werte wie der Erholungszustand oder der Energieumsatz auf Basis der gemessenen Herzfrequenz ermittelt würden, seien oft auch weitere Angaben unpräzise.

Im Freizeitbereich komme es nicht unbedingt darauf an, hochpräzise Werte zu ermitteln, sagt Schumann. Um einen ersten Anhaltspunkt zum Trainingsstatus oder zum Aktivitätsniveau zu bekommen, reiche auch eine Abschätzung. Wenn die Technik aber im Leistungssport oder in klinischen Settings zum Einsatz komme, sei Präzision Pflicht. Zum Beispiel bei der großen Krebsstudie, an der Schumann beteiligt ist. Hier werden Wearables eingesetzt, um ein Live-Remote-Training für Krebspatient*innen zu steuern und zu überwachen. „Wir nutzen Klebeelektroden, die uns die Atemfrequenz, Herzfrequenz, Hauttemperatur und sogar ein EKG live übermitteln können“, so Schumann. Die Forschenden können das Training mit Hilfe der Wearables live begleiten, steuern und die Patient*innen noch bis zu 24 Stunden überwachen. „Das heißt, wir können auch deren Erholung mit tracken, können intervenieren und das Training auf individuelle Bedürfnisse anpassen“, erklärt der Wissenschaftler.  

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Ähnliche Vorteile der Wearable Technologie machen sich auch Trainer*innen im Leistungssport zu Nutze. Verschiedene Leistungsparameter helfen ihnen, den Trainingsplan individuell auf die Athlet*innen anzupassen. Als eines der neusten Tools für die individuelle Trainings- und Wettkampfgestaltung sind derzeit Sensoren im Gespräch, die minimalinvasiv über eine dünne Nadel live Auskunft über den Blutglukosespiegel im Zwischenzellraum geben; eine Technik, die ursprünglich für die Therapie von Diabetes-Erkrankungen entwickelt wurde. Triathlet Jan Frodeno oder Marathon-Läufer Eliud Kipchoge nutzen die ungefähr 2-Euro-Münzen-großen, weißen Kunststoff-Sensoren bereits. Immer häufiger sieht man sie auch am hinteren Oberarm von anderen Sportler*innen. Der sensorgesteuerte Blick in den Körper soll die Energieversorgung während des Wettkampfes optimieren und zu besseren Leistungen führen.

Schumann selbst hat in Studien mit einem anderen interessanten Verfahren gearbeitet: einer Temperatur-Messkapsel zum Schlucken. Die Kapsel kann vor dem Wettkampf wie eine Tablette eingenommen werden und währendessen Informationen zur Körperkerntemperatur liefern. Gerade bei extremen Bedingungen könnten diese Kapseln Überhitzungen frühzeitig erkennen und Athlet*innen schützen. Wer aber trifft dann die Entscheidung, Sportler*innen bei kritischen Werten frühzeitig aus dem Wettkampf zu nehmen? Wer darf die Technik im Wettkampf einsetzen, und wer erhält Zugang zu den Daten? Je weiter sich die Wearable Technologie in den letzten Jahren entwickelt hat, desto stärker treten auch bei Dr. Moritz Schumann – der eigentlich Trainingswissenschaftler ist – Fragen wie diese in den Vordergrund.

Und sie erfordern Entscheidungen, die weit über sein Forschungsgebiet hinaus gehen: „Bei der Frage, wie weit Technologie das Wettkampfgeschehen beeinflussen darf, sind die Organisationen, also zum Beispiel das IOC, gefragt. Bisher ging es immer nur darum, aufzuzeichnen“, sagt Schumann. „Jetzt stellt sich die Frage: Wann greife ich ein? Bei der Körperkerntemperatur gibt es ein Limit. In der Regel liegt das bei 41 oder 42 Grad. Es gibt aber Athlet*innen, die kollabieren wesentlich früher. Andere können trotzdem noch ein ganzes Stück weiterlaufen. Hier die Balance zu finden, wann ich eingreife, um einen Hitzschlag zu vermeiden und wann nicht, ist extrem schwierig.“

Was PD Dr. Moritz Schumann auf Basis seiner trainingswissenschaftlichen Studien aber am meisten kritisiert, ist, wie intransparent Hersteller mit ihren Daten und deren Qualität umgehen. Bisher haben Nutzer*innen kaum eine Chance, die Datenqualität von Wearables einschätzen und einordnen zu können. Es fehle eine Vergleichsdatenbank als Grundlage auch für weitere tiefgreifende Entscheidungen. Auch deshalb bemüht sich Schumann seit gut drei Jahren darum, Wearables in verschiedenen Settings zu testen. Zusammen mit Kolleg*innen möchte er im internationalen Wearable Konsortium „INTERLIVE“ objektive Kriterien ermitteln, nach denen Geräte individuell verglichen werden können. Daraus soll eine umfangreiche Vergleichs-Datenbank entstehen, wie es sie beispielsweise auch schon für Smartphone-Kameras gibt.

Moritz Schumanns Wunschvorstellung ist es, dass Nutzer*innen in Zukunft individuell filtern können, für welchen Zweck sie ein Tool nutzen möchten und welches sich hierfür am besten eignet. „Jetzt ist die Wissenschaft wieder dran, um das, was auf Herstellerseite passiert ist – zumin-dest in Teilen – rückgängig zu machen oder zumindest zu begrenzen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Datenqualität der Wearables gewährleistet wird“, sagt Schumann. Sind die Algorithmen gesichert und die Datenqualität wissenschaftlich validiert, können die Tools auch zuverlässig im Hochleistungsbereich und für klinische Studien eingesetzt werden. Und auch im Freizeitsport machen zuverlässige Daten mehr Spaß – selbst wenn es nur eine korrekt ausgegebene Schrittzahl ist.

Und was trackst Du?!

Dr. Oliver Quittmann hat Spaß daran, seine eigene Leistung aufzuzeichnen. Seine Multisport-Smartwatch trägt er am Tag und in der Nacht.

PD Dr. Moritz Schumann trackt seit Jahren nichts mehr. Einfach ohne technisches Equipment loslaufen zu können, war nach jahrelangem Tracking wie eine Befreiung für ihn.