360°-Videos zum Erlernen von Bewegungsmustern - eine Konzeptidee für den Einsatz als Lehr-Lernmedium

Philipp Rosendahl, Ingo Wagner

ZUSAMMENFASSUNG

360°-Videos bieten immersive und interaktive Gestaltungsmöglichkeiten für Lehr-Lernprozesse in authentischer Lernumgebung. Da diese in Gänze bisher noch kaum genutzt werden, stellt der Beitrag eine Konzeptidee für das digitale Vermitteln und Erlernen von vordefinierten Bewegungsmustern bzw. Bewegungsabfolgen vor. Die Konzeptidee zeigt am Beispiel einer Karate-Kata methodisch-didaktische Schritte für digitales selbstständiges Bewegungslernen vordefinierter Bewegungsabläufe und Bewegungschoreografien. Neben der Beobachtung aus mehreren Perspektiven werden dabei Immersion und Interaktion von 360°-Videos genutzt.

1. EINLEITUNG

Videos sind ein weit eingesetztes Lehr-Lernmedium (Börner et al., 2016) und finden im schulischen, hochschulischen und außerschulischen Sport Verwendung. Dank Vorteilen in der bildlichen Darstellung abstrakter Sachverhalte oder komplexer dynamischer Bewegungsabläufe in einem dreidimensionalen Raum (Saurbier, 2017), werden sie insbesondere als Videofeedback und zur exemplarischen Präsentation einer optimalen Bewegungsausführung (Fischer & Krombholz, 2020) sowie zum möglichen Bewegungsvergleich durch Eigenaufnahmen und zur Taktikschulung (Dober, 2019) genutzt. Als eher neuer Ansatz greift die 360°-Videotechnologie die Vorteile herkömmlicher Videos für Lehr-Lernprozesse auf und bereichert sie um immersive-interaktive Erfahrungen, die die Lernmotivation für selbstständiges Lernen steigern können (Kavanagh et al., 2016; 2017) und Lehr-Lern-Potenziale offerieren.
Für Lehr-Lernprozesse im Sport wird digitalen Medien hohes Potenzial zugesprochen (Wendeborn, 2019), was jedoch bisher bspw. im schulischen Sportunterricht wenig erforscht ist (Zühlke et al., 2020). Daher werden in Anlehnung an ein Proof of Concept erste Ideen einer 360°-Video-Lehr-Lerneinheit zum Bewegungslernen vordefinierter Bewegungsabfolgen am Beispiel einer Karate-Kata skizziert. Dieses Konzept könnte sowohl in der Aus- als auch in der Fortbildung von Sportlehrkräften, im Sportunterricht oder als Trainingsinstrument Anwendung finden.

2. BEGRIFFSERKLÄRUNG

360°-Videos sind Videoaufnahmen, die bei deren Wiedergabe einen individuell steuerbaren Rundumblick von einem vorgegebenen statischen oder dynamischen Standpunkt aus ermöglichen (Hebbel-Seeger, 2018). Im Sinne der dritten Stufe der Taxonomie der Interaktivität von Multimedia-Komponenten von Schulmeister (2002) interagieren die Betrachtenden durch die freie Blickrichtungswahl mit dem Medium und verändern die entsprechende Darstellungsoptik, die aufgenommene Handlung bzw. die Inhalte sind im Vergleich zu programmierten Virtual-Reality (kurz: VR) Szenarien nicht manipulierbar (Bäder & Kasper, 2020).
Unter Immersion wird das Anwesenheits- und Realitätsempfinden innerhalb einer digitalen Anwendung verstanden (Petri & Witte, 2018). Immersive Medien können sowohl eher wenig immersiv am Desktop mit Blickrichtungssteuerung per Mausbewegung als auch hochimmersiv mit hochauflösenden VR-Brillen und Blickrichtungssteuerung per Kopfbewegung betrachtet werden, die üblicherweise von VR-Anwendungen bekannt sind. Auch 360°-Videos lassen sich ebenfalls mit verschiedenen, nach deren Immersionsgrad systematisierten Ausgabemedien, betrachten.
Die verschiedenen Definitionen und Eigenschaften immersiv-interaktiver Technologien wie bspw. VR oder 360°-Videos lassen sich nicht in Gänze voneinander unterscheiden (Kavanagh et al., 2017).

3. 360°-VIDEOS ALS LEHR-LERNMEDIUM IM SPORT

Der Einsatz von Videotechnologie eignet sich im Gegensatz zu statischen Bildern besonders für den Bereich der Bewegung und daher für Sportkontexte. Durch Videos können Bewegungsabläufe demonstriert, nachgemacht und verstanden werden (Dober, 2019), insbesondere durch eine Verknüpfung des Videolernens mit der sozial-kognitiven Lerntheorie „Lernen am Modell“ nach Bandura. Denn durch Beobachtung einer anvisierten als optimal eingestuften Bewegungsausführung eines aufgenommenen Vorbilds (Fischer & Krombholz, 2020), können Bewegungsmuster gut angeeignet und ausgeführt werden. Des Weiteren werden bspw. unterschiedliche Aufnahmeperspektiven herkömmlicher Videoaufzeichnungen als Videofeedback sportlicher Leistung eingesetzt (Hjort, Henriksen & Elbæk, 2018) oder unterstützen theoretisches Online-Lernen für eine zeitoptimierte Praxis in Präsenzzeit (Rudloff, 2017).

Immersive Videotechnologien wie VR ermöglichen eine dreidimensionale Bewegungsdarstellung in einer geschützten Lernumgebung (Jensen & Konradsen, 2018) und werden bereits zum Reaktionstraining oder zur Aufmerksamkeitsförderung im Sport eingesetzt (Petri et al., 2019). Teilweise werden in interaktiven Videosimulationen komplexe Bewegungen oder Handlungen separiert trainiert (Hebbel-Seeger, Kretschmann & Vohle, 2013). Aufgrund von notwendigen Programmierkenntnissen sowie technischer und finanzieller Ressourcen gehen insbesondere die Erstellung von VR-Anwendungen und deren Implementierung im Sport mit höherem Aufwand einher (Fischer & Krombolz, 2020). Jedoch steht mit 360°-Videos eine ressourcenschonende immersive-interaktive Videotechnologie zur Verfügung. Denn die Preisspannen für 360°-Kameras (bereits ab 50 Euro erhältlich) und VR-Brillen variieren je nach Qualitätsanspruch und erwünschtem Immersionsgrad und werden aufgrund technischer Entwicklungen zunehmend günstiger; die mit ihnen erzeugten 360°-Videos lassen sich mit Hilfe von herkömmlichen Smartphones und dazugehörigen VR-Halterungen, z.B. aus Pappkartons (bspw. google Cardboard) für 10 Euro bereits immersiv erleben.

Während vereinzelt bereits VR-Anwendungen weiter Einzug in den Sport als Lehr-Lernmedium oder Trainingsinstrument erhalten, ist eine Verwendung von 360°-Videos als Lehr-Lernmedium im schulischen Sport oder der hochschulischen Ausbildung bisher weniger bekannt. Im außerschulischen Sport werden sie vereinzelt als kognitives Trainingsinstrument zur Aufmerksamkeitsförderung (Kittel et al., 2020), zur mehrperspektivischen Reflexion und Analyse von Spielsituationen und eigener Leistung (Panchuk, Klusemann & Hadlow, 2018), zur mentalen Vorbereitung auf Wettkampfumgebungen (Appelbaum & Erickson, 2016) und zur Motivationssteigerung eingesetzt (Hebbel-Seeger, 2017). Durch VR-Brillen ist zudem eine gefühlte Trainingsteilhabe mit 360°-Videoaufnahmen möglich (Farley, Spencer & Baudinet, 2019).

360°-Videos scheinen somit vielfältige Einsatzmöglichkeiten und Mehrwerte zu bieten, die als Lehr-Lernmedium und Trainingsinstrument nutzbar sind. Ähnlich dem Ansatz der 360°-Bewegungsanalyse Pythagoras (Büning & Wirth, 2020) können durch den 360°-Kamerarundumblick mehrere Perspektiven auf Bewegungen beobachtet werden. Durch Wiedergabe der 360°-Kameraaufnahmen mit VR-Brillen entstehen immersive Trainingsmöglichkeiten, die innerhalb eines Blended-Learning-Ansatzes für selbstständiges digitales Bewegungserlernen und einen zeitoptimierten Präsenzunterricht sowohl in der Aus- als auch in der Fortbildung von Sportlehrkräften sowie im Sportunterricht genutzt werden können. Durch die selbstständige Aneignung der Bewegungsabfolge im Selbststudium lassen sich Präsenzzeiten zur Bewegungsverfeinerung und Reflexion gezielter nutzen, ohne zunächst die Bewegungsabfolge zu lehren, zu lernen und zu trainieren.

4. KONZEPTIDEE

Die Konzeptidee konzentriert sich zunächst auf das Modelllernen durch Beobachtung und Nachahmung für vordefinierte Bewegungsabfolgen. Durch 360°-Videoaufnahmen von Vorbildern, die die Bewegungsabfolge möglichst optimal ausführen, können in Anlehnung an das Modell-Lernen nach Banduras, die einzelnen Bewegungen zunächst beobachtet werden, um anschließend die Bewegungsabfolge anzueignen.

Aufbauend auf dem individualisierten Lernfortschritt der Lernenden, werden mit aufeinanderfolgenden 360°-Videoaufnahmen, gemäß den methodischen Prinzipien der Sportdidaktik, die Anforderungen an die Bewegungsausführung gesteigert. Die Konzeptidee ist in verschiedenen Lehr-Lern-Arrangements, u.a. im Flipped-Classroom-Ansatz anwendbar, sodass sich Lernende selbstständig vordefinierte Bewegungsabfolgen online in ihrem eigenen Lerntempo aneignen, um anschließend gemeinsam, ausgehend von einer gleichen Bewegungsbasis, die Bewegungen in einem zeitoptimierten Präsenzunterricht zu reflektieren, zu verfeinern und umzugestalten. Die einzelnen aufeinanderfolgenden Schritte 1-3 sind frei wählbar, sodass Lernende zwischen reiner Beobachtung und Observation, Nachahmung oder synchroner Mitbewegungen gemäß ihres Leistungsstandes entscheiden können, um die Bewegungsabfolge zunächst zu beobachten, nachzuahmen oder zu festigen. Die Umsetzung der Konzeptidee zum Bewegungslernen mit 360°-Videos wird am Beispiel der Shotokan-Karate-Kata „Taikyoku Shodan“ aufgezeigt und lässt sich generell auf weitere vordefinierte Bewegungsformen oder Choreografien transferieren.

Herkömmliche Trainingsvideos bilden meist nur eine Perspektive auf die Bewegungen ab, überwiegend aus der frontalen Ansicht. Für die Aneignung einer Bewegungsabfolge durch Beobachtung und für ein genaueres Bewegungs- und Technikverständnis ist jedoch auch die Beobachtung der Seit- oder Rückansicht der Bewegungen notwendig. Erst aus unterschiedlichen Blickperspektiven wird ersichtlich, ob bspw. die Hüfte bei Bewegungen gerade oder abgedreht ist oder die Knie in verschiedenen Standpositionen durchgestreckt oder angewinkelt sind. Die 360°-Video-Lehr-Lerneinheit setzt an diesem Punkt an, greift die bisherigen Vorteile herkömmlicher Videos wie bspw. die Darstellung und wiederholbare Reflexion komplexer Bewegungsabläufe auf und erweitert die Beobachtungsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Blickrichtungen. Dadurch eignet sich das Konzept sowohl für die Aus- und Fortbildung von Sportlehrkräften sowie für den Sportunterricht, dabei gleichermaßen als zusätzliches Trainingsinstrument in Sportarten mit vordefinierten Bewegungsabfolgen.

5. DURCHFÜHRUNG DER KONZEPTIDEE

Die Durchführung der 360°-Video-Lehr-Lerneinheit erfolgt in vier Schritten, die auf die Beobachtung, Durchführung, Festigung und Reflexion der Kata zielen. Aufgrund unterschiedlicher Zielsetzung unterscheiden sich die 360°-Videoaufnahmen der einzelnen Schritte in ihrer Kameraführung sowie in der aufgenommenen Bewegungsdynamik der Vorbilder. Der schematische Aufnahmeaufbau bleibt gleich. Die 360°-Videokamera wird in der Mitte eines Raumes platziert. Um die Kamera herum werden mit ausreichend Platz vier Vorbilder in Form einer Raute aufgestellt, die die Kata in ihrer Bewegungsausführung möglichst synchron ausführen (Abb.1). Dadurch können die Beobachtenden die Techniken und Bewegungsabfolgen je nach Blickrichtungswahl in Sagital- oder Frontalebene aus mehreren Perspektiven betrachten.

5.1 Beobachten und Aneignen

Im ersten Schritt erfolgt die 360°-Videoaufnahme mit einer statischen Kameraposition, deren Kamerafokus in etwa auf Kopf- und Schulterhöhe der Vorbilder ausgerichtet ist, damit die Blickebene mit den aufgenommenen Vorbildern übereinstimmt.
Das Ziel dieser 360°-Videoaufnahme ist das selbstständige Kennenlernen der Techniken und Bewegungsabfolge durch Beobachtung. Dies kann sowohl wenig immersiv per Desktopsteuerung als auch immersiv mit Hilfe von VR-Brillen erfolgen, ist jedoch für Aneignung und Lernen der Bewegungsabfolge zunächst nicht notwendig.
Die Bewegungsausführung der Vorbilder erfolgt für ein besseres Verständnis und Nachvollziehbarkeit in einem langsamen Tempo. Durch die statische Kameraposition können sich Beobachtende die Bewegungsabfolge und Techniken aus der Front-, Rück-, oder Seitansicht der Vorbilder am Desktop aneignen.
Zur Förderung des Bewegungsverständnis und zur Verknüpfung von mehreren Sinneskanälen und Reizen, lassen sich bspw. Audioerklärungen und/oder Beobachtungsaufgaben für Reflexionsprozesse der Bewegungsabfolgen in die 360°-Videoaufnahmen mit Software-Programmen für interaktive Inhaltsgestaltung wie bspw. „H5P“ integrieren, die die Beobachtenden beantworten.

5.2 Durchführen und Einüben

Im zweiten Schritt gilt es nicht nur zu beobachten, sondern die Bewegungsabfolge in reduziertem Bewegungstempo selbstständig einzuüben. Die Kata wird nun mit einer dynamischen Kameraposition wiederholt in einem langsamen Bewegungstempo aufgenommen. Dazu wird die 360°-Kamera auf dem Kopf eines fünften Vorbildes befestigt, dass in der Mitte der Raute platziert ist und sich gemäß den entsprechenden Bewegungsrichtungen leicht verzögert versetzt mitbewegt (Abb. 2). Es ist nicht erforderlich, dass das fünfte Vorbild auch die Techniken oder die exakte Kopfbewegung durchführt. Durch die befestigte Kameraposition, bleibt der Rundumblick auf die Vorbilder erhalten und bietet eine individuelle Betrachtung der Bewegungsabfolge. Die Beobachtenden können dadurch die Techniken der vier Vorbilder der Raute zunächst nochmals mehrperspektivisch beobachten und anschließend nachmachen.
Das Ziel ist das selbstständige Einüben der Kata. Nach deren Aneignung durch Beobachtung im ersten Schritt, führen die Trainierenden nun die Bewegungsabfolge in Echtzeit mit der 360°-Videowiedergabe aus. Dabei ist ein höherer Immersionsgrad und die Betrachtung durch festfixierte VR-Brillen oder VR-Brillen-Halterungen notwendig, damit eine gleichzeitige Bewegungsausführung mit der 360°-Videowiedergabe unabhängig von festen Desktopgeräten möglich wird. Durch den höheren Immersionsgrad nehmen die Trainierenden gefühlt die Position innerhalb der aufgenommenen Vorbilder-Raute ein und werden Teil dieser digitalen Trainingsgruppe.

5.3 Festigen und Verfeinern

Im dritten Schritt gilt es, die Kata nun in ihrem eigentlichen Bewegungstempo zu verfeinern. Dabei wird in einer dritten 360°-Videoaufnahme, gleichbleibend der Aufnahmegestaltung aus Schritt 2, die Dynamik und Krafteinsatz der Bewegungen erhöht. Gleichzeitig erfolgt die synchrone Mitbewegung des fünften Vorbildes in der Mitte gemäß der Bewegungsabfolge der Vorbilder der Raute. Als Orientierung zur synchronen Bewegungsausführung mit den Vorbildern sind auditive Zählkommandos hilfreich, damit eine gleichzeitige Bewegung mit den Vorbildern möglich wird. Auf ein beliebiges Signal hin, bewegen sich die Vorbilder in der Aufnahme. Der Trainierende hat die Aufgabe, sich nach gegebenem Signal entsprechend der Bewegungsausführung mitzubewegen und gefühlt die Mitte-Position der Raute einzunehmen.
Das Ziel der dritten 360°-Videoaufnahme liegt in der selbstständigen Verfeinerung der Bewegungsabfolge. Nach langsamer Durchführung und Einübung innerhalb des zweiten Schrittes werden nun im dritten Schritt die Techniken und Bewegungsabfolgen flüssiger. Durch die VR-Brille trainieren die Lernenden weiter gefühlt in der digitalen Trainingsgruppe.

5.4 Reflektieren und Umgestalten

Nachdem die vordefinierte Bewegungsabfolge online innerhalb der 360°-Video-Lehr-Lerneinheit selbstständig gefestigt wurde, lässt sich nun im Präsenzunterricht die Bewegung reflektieren und umgestalten. Die Präsenzzeit lässt sich nach Beobachtung, Durchführung und Festigung von vordefinierten Bewegungsmustern zeitoptimiert für tiefere Reflexionsprozesse nutzen, ohne zunächst die Bewegungsabfolge zu vermitteln. In Kleingruppen können anschließend bspw. Bewegungsaufgaben zur Umgestaltung von Ausdruck oder Dynamik im Sinne einer Förderung der ästhetischen Bewegungsgestaltung gestellt werden, die jedoch auf einer gleichen Bewegungsbasis beruhen.

6. DISKUSSION

Im Sinne eines Proof of Concept ist die vorgestellte Lehr-Lernkonzeption von 360°-Videos im Sport als möglich zu bewerten. In der Literatur zeigen sich erste Potenziale von 360°-Videos über Zuwächse der Akzeptanz und des Trainingserfolgs im außerschulischen Sportkontext, insbesondere für reflexive und analytische Lehr-Lernprozesse. Lernende nehmen dabei jedoch nur eine beobachtende Rolle ein, eine aktive Interaktion mit dem Medium für Bewegungslernen ist nicht bekannt. Die meisten Studien sind als explorativ zu bewerten, eine tatsächliche Eignung von 360°-Videos als Lehr-Lernmedium im Sport ist noch nicht belegt. Die wenigen evaluierten Einsatzmöglichkeiten lassen größtenteils keine spezifisch angewandte Lerntheorie wie bspw. eine kognitivistische Lerntheorien erkennen.

Demensprechend existieren keine anleitenden methodisch-didaktischen Schritte für einen spezifischen 360°-Videoeinsatz im Sport, an denen sich die vorgestellte Konzeptidee orientieren konnte. Angelehnt an die kognitivistische Lerntheorie „Lernen am Modell“ sollen daher erste Impulse zur Erarbeitung für ein methodisch-didaktisches Konzept geliefert werden. Der 4-stufige Aufbau gliedert sich in selbständiges Kennenlernen, Aneignen und Verfeinern vordefinierter Bewegungsabfolgen und lässt sich so bspw. innerhalb eines Flipped-Classroom-Ansatzes umsetzen. Vordefinierte Bewegungsabfolgen lassen sich damit selbstständig online aneignen, die anschließend in der Präsenzzeit reflektiert und umgestaltet werden können. Dadurch entfällt das vorherige Kennenlernen und Aneignen einer Bewegungsabfolge innerhalb der Präsenzzeit, die damit zeitoptimiert zur Förderung von Ausdrucksmöglichkeiten, Reflexion oder Bewegungsverfeinerung genutzt werden kann.
Die Konzeptidee greift bereits bekannte positive Potenziale von 360°-Videos auf und erweitert diese mit immersiven-interaktiven Lernschritten für ein beobachtendes und aktiv nachahmendes Bewegungslernen für vordefinierte Bewegungsabfolgen in einer digitalen Trainingsgruppe. Die Auswirkungen statischer und dynamischer 360°-Kameraführungen wurden in den aufbauend methodisch-didaktischen Schritten berücksichtigt. Eine dynamische Kameraposition, verbunden mit einem immersiven Ausgabemedium, kann Unwohlsein, sogenannte „motion sickness“, auslösen. Diese kann entstehen, wenn visuelles Bewegungsempfinden innerhalb einer immersiven Anwendung mit tatsächlich realer physischer Bewegung nicht übereinstimmt (Hebbel-Seeger et al., 2019). Daher werden zunächst die Bewegungen mit statischen 360°-Videoaufnahmen beobachtend selbstständig angeeignet. Für die Aneignung der Bewegungsabfolge durch Beobachtung im ersten Schritt ist zunächst kein Ausgabe- bzw. Betrachtungsmedium mit hohem Immersionsgrad notwendig und kann am Desktop erfolgen. Erst wenn die Trainierenden die Bewegungsabfolge kennen, werden festfixierte VR-Brillen bzw. VR-Brillenhalterung für Smartphones für die synchrone Durchführung der Bewegungsabfolgen mit der 360°-Videoaufnahme notwendig. Dabei gleicht die reale synchrone Bewegung dem visuellen Bewegungsempfinden durch die dynamische Kameraführung, eine Reduzierung von Motion-Sickness wird daher angenommen.  
Die technische Weiterentwicklung von Kamerasystemen und immersiver Technologien, ermöglichen zunehmend günstige und einfach gestaltbare Anwendungen. 360°-Videoaufnahmen lassen sich einfach gestalten und mit zusätzlichen Bewegungsaufgaben und interaktiven Inhalten durch verschiedene Software wie bspw. „H5P“ einfach ergänzen.
Es stellt sich weiterführend die noch offene Frage, ob die vorgestellte Konzeptidee auch über das Bewegungslernen vordefinierter Bewegungen bzw. Choreografien hinaus als Trainingsinstrument für taktische oder vordefinierte Bewegungsabfolgen im Mannschaftssport ebenfalls umsetzbar ist. Im American Football lassen sich bspw. taktische Positionsbewegungen, die einem festdefinierten Taktikplan entsprechen, aneignen und trainieren.

7. FAZIT

Lehr-Lernprozess in der Sportlehrer*innenausbildung lassen sich mit 360°-Videos durch mehrere Beobachtungsperspektiven, Immersion und Interaktion in einer authentischen Lernumgebung digital unterstützen. Daneben lassen sich unterschiedliche Lehr-Lern-Arrangements gestalten, die Online- und Präsenzlernen für Bewegungen und Techniken ermöglichen. Im Rahmen des digiMINT-Projektes des Karlsruher Instituts für Technologie werden 360°-Video-Lehr-Lerneinheiten für die Lehramtsausbildung im Sport und in weiteren Fachdisziplinen entwickelt und in Lehr-Lern-Laboren evaluiert, um daraus methodisch-didaktische Konzepte sowie Lerneinheiten abzuleiten. Erste Evaluationsergebnisse bezüglich deren Eignung als Lehr-Lernmedium und motivationaler Lernförderung werden Mitte 2022 erwartet.

AUTOREN

Philipp Rosendahl

ist seit 2020 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Interdisziplinäre Didaktik der MINT-Fächer und des Sports am Institut für Sport und Sportwissenschaften des Karlsruher Intituts für Technologie beschäftigt. In der Forschung beschäftigt er sich dort im Rahmen seiner Dissertation mit 360° Videotechnologie und deren Verwendung als Lehr-Lernmedium.

Jun.-Prof. Dr. Ingo Wagner

leitet seit 2018 den Arbeitsbereich „Interdisziplinäre Didaktik der MINT-Fächer und des Sports“ am Karlsruher Institut für Technologien (KIT). Dort forscht er gemeinsam mit seinem Team zur Digitalisierung in Bildungskontexten, u. a. in den fachübergreifenden Projekten digiMINT und digiLAB.

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