Nr. 1/2017

Forschung in der urbanen Tanzszene

Daniela Rodriguez Romero (33) ist Lehrkraft für besondere Aufgaben im Institut für Tanz und Bewegungskultur und lehrt im Bachelorstudium das Fach Bewegen und Gestalten. Zudem ist sie als freischaffende Bühnenchoreografin für Tanz mit jungem Publikum tätig und Initiatorin der Genderinitiative Ladies Dance – women for women. Wie Forschung in der urbanen Tanzszene aussehen kann und was sich hinter dem Genderprojekt Ladies Dance – women for women verbirgt, berichten wir in FORSCHUNG AKTUELL.

Haben Sie schon mal etwas von Popping, Locking, Vogueing oder Waacking gehört? Können Sie sich vorstellen, dass es sich hierbei um Tanzstile handelt? Und zwar Tanzstile, die in den 70er und 80er Jahren an der West- und Ostküste der USA entstanden und gemeinhin unter dem Begriff Street Dance zusammengefasst werden. Mit diesen Details kennt sich Daniela Rodriguez Romero aus, und zwar in Praxis und Theorie. Seit ihrer Jugend interessiert sich die Tanzdozentin des Instituts für Tanz und Bewegungskultur für den sogenannten „Urbanen Tanz“. Der Begriff ist dabei eine deutsche Version des „Street Dance“, wobei sich „Street“ auf den Ort der Praxis („öffentlicher Stadtraum“) bezieht. Charakteristisch ist zudem, dass sich die Tanzkünstler ihre Tanzformen auf einem autodidaktischen Lernweg aneignen, und zwar durch den ständigen Dialog mit anderen Mitgliedern der Szene und durch das permanente Reflektieren der eigenen Ausbildung, wie der Hip-Hop-Pionier und Autor Niels Robitzky beschreibt. Bei ihm durchlief Rodriguez Romero 2008 eine der ersten deutschen tanzpädagogischen Ausbildungen im urbanen Tanz. Urbaner Tanz steht also im Gegensatz zur „akademischen“ Tanzausbildung wie etwa dem klassischen Bühnentanz.

„Im urbanen Tanz gibt es zahlreiche Tanzkulturen, die sich voneinander unterscheiden. Eine große Gemeinsamkeit ist aber, dass es sich bei allen um Improvisationstänze handelt, das heißt es gibt keine festgelegte Choreographie, sondern der Tänzer, die Tänzerin vollzieht Bewegungen selbst nach, variiert diese und präsentiert diese letztlich einer Gruppe von Gleichgesinnten in der jeweiligen Kultur selbst“, erklärt Rodriguez Romero. Sie selbst hat sich vor langer Zeit den sogenannten Funkstyles verschrieben, vor allem studierte sie die Tanzkultur des Locking im Selbststudium. Dieser Tanzstil zeichnet sich durch große, teilweise übertriebene, sehr dynamische abgehackte Bewegungen aus, die – daher der Name „Locking“ – kurz in ihrer Endposition „einrasten“. Bevor die Dozentin ihre Leidenschaft entdeckte, probierte sie sich in zahlreichen Sportarten aus: Leichtathletik, Schwimmen, Turnen, Volleyball. „Der Musikkanal MTV hat mir dann die Welt des Tanzes eröffnet“, erinnert sie sich an ihre Jugend zurück. Tanzangebote gab es damals in ihrer ländlichen Heimat nicht, daher ließ sie sich vom Videoclipdancing inspirieren und entwickelte ihre ersten eigenen Schrittfolgen. „Ich fand es schon als Jugendliche toll, selbst Bewegungen zu erfinden. Dann habe ich meine Freundinnen gezwungen, meine Choreographien zu lernen und bei diversen Auftritten mitzumachen“, erzählt sie lachend und ergänzt: „Mit 18 habe ich sogar rund 60 Jugendliche aus meinem Dorf vertraglich gebunden, bei einer eigenen Tanzproduktion mitzumachen. Das Interesse am choreographischen Arbeiten war also früh da.“ Bis dahin konnte sie allerdings noch keine ausgewiesenen tänzerischen Fähigkeiten vorweisen; das änderte sich mit Beginn ihres Diplomstudiums an der Deutschen Sporthochschule Köln. Hier in NRW – neben Berlin eine Hochburg der urbanen Tanzszene in Deutschland – begann sie, sich dezidiert im Locking weiterzubilden. „Als ich das erste Mal jemanden sah, der Locking tanzte, war es um mich geschehen. Das Studium war in diesem Moment plötzlich Nebensache, ich wurde zu einem richtigen Tanz-Nerd, habe alles andere ausgeblendet“, schildert sie. Über VHS-Kassetten, Workshops und im Austausch mit anderen Tänzern, fast ausschließlich Männern, lernte sie nach und nach dazu, bis sie letztlich einen erfahrenen „Locking-Tänzer“ überzeugen konnte, sie in einem Master-Student-Lernverhältnis aufzubauen. Nur so funktioniert die „Ausbildung“ im urbanen Tanz bislang.

Durch ihre Lernerfahrung in unterschiedlichen Lernfeldern eignete sich die junge Dozentin eine Vermittlungskompetenz an, die es ihr ermöglichte, 2009 ein Lehrkonzept zu gestalten, für welches sie 2015 den Lehrpreis der Deutschen Sporthochschule Köln erhielt. Für das Modul Trendsport entwickelte sie das Lehrkonzept „Urbaner Tanz in Schulen“, das in Form eines Praxiskurses im Lehramt angeboten wird. Kern des Lehrkonzepts ist die Ausbildung einer fachlichen, methodischen und didaktischen Lehrkompetenz seitens der Lehrkräfte im Schulsport. „Viele Lehrerinnen und Lehrer trauen sich nicht, urbanen Tanz als Unterrichtsinhalt anzubieten, weil sie denken, dass sie die Bewegungen nicht gut vormachen können. Anhand meines Lehrkonzepts sollen die Lehrkräfte daher darin geschult werden, urbanen Tanz fundiert und authentisch im Sportunterricht vermitteln zu können, ohne dass sie dafür selbst Tänzer sein müssen“, erklärt Rodriguez Romero.

Aus ihrer eigenen Erfahrung weiß sie zudem, wie schwierig es für junge Mädchen und Frauen ist, sich in der hochgradig männerdominierten Tanzkultur durchzusetzen bzw. langfristig dabei zu bleiben. Die urbane Tanzszene weist zunehmend eine öffentliche Battle-Mentalität auf und die informellen Wettkämpfe sind teilweise sehr groß und sehr kompetitiv. Zum weltgrößten Street Dance Event, Juste Debout in Paris, kommen beispielsweise rund 10.000 Zuschauer. Hier aufzutreten, erfordert ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und Mut, vor allem aus Sicht der Tänzerinnen, wenn es sich bei den meisten Anwesenden um Männer handelt. Rodriguez Romero selbst gewann 2015 beim Battle of the Year, dem größten jährlich stattfindenden, internationalen Breakdance-Wettbewerb, in der Kategorie Locking und setzte sich dabei gegen ein reines Männerfeld durch. „Jeder beobachtet einen, alle sind sehr kritisch, auf solchen öffentlichen Großevents treten nur wenige Frauen an – all dies erschwert Mädchen und jungen Frauen den Zugang zur urbanen Tanzszene. Mit unserer Workshopreihe ‚Ladies Dance – women for women‘ wollen wir etwas für den weiblichen Tanznachwuchs in Deutschland tun und die Frauen in urbanen Tanzkulturen bestärken“, sagt Rodriguez Romero. Dieses Ziel verfolgt seit nunmehr zehn Jahren das Genderprojekt Ladies Dance. Auf Initiative von Rodriguez Romero entstand das Projekt als studentische Gruppenarbeit im Jahr 2006 und hat sich nun als festes Tanzangebot etabliert, welches Workshoptage in Kooperation mit dem Institut für Tanz und Bewegungskultur durchführt. Bei diesen Workshops bleiben Mädchen und Frauen unter sich und schnuppern in unterschiedliche urbane Tanzstile rein. Das methodisch-didaktische Konzept setzt sich mit bestehenden Sozialisationsproblematiken und der Präsenz von Geschlechterrollen im urbanen Tanz auseinander. Zudem gibt es Intensivcamps für besonders passionierte Nachwuchstänzerinnen. Und 2016 wurde erstmals ein Genderprojekt für geflüchtete Mädchen, gefördert vom NRW-Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport durchgeführt, das Urban Dance Camp 2016.

Das Tanzangebot Ladies Dance evaluierte Rodriguez Romero in ihrer Diplomarbeit 2009. Das Ergebnis: Die Workshopreihe trage dazu bei, Frauen den Zugang zum urbanen Tanz zu erleichtern, Weiblichkeitszwänge aufzubrechen und somit das Selbstbewusstsein von Mädchen und Frauen zu stärken. Mädchen und Frauen, die urbanen Tanz zum ersten Mal ausprobieren, würden sich in einer gleichgeschlechtlichen Gruppe wohler fühlen als in einem heterogen-geschlechtlichen Training. Weitere aktuelle Forschungsprojekte im Rahmen von Ladies Dance widmen sich z.B. dem Umgang mit Heterogenität aus fachdidaktischem Interesse oder der kulturellen Differenzierungsdynamik von Bewegungssprache. Ladies Dance soll sich in den nächsten Jahren vor allem auf die Bestärkung talentierter Nachwuchstänzerinnen fokussieren.

Seit 2014 steht Ladies Dance – women for women in Kooperation mit der Landesarbeitsgemeinschaft Tanz NRW. Gemeinsam richten sie die „Ladies Dance goes NRW“-Tour aus, um das Angebot in mehreren Städten zugänglich zu machen. „Einen Träger oder Sponsor zu finden, der das Modellprojekt mit den fünf Pfeilern urbane Tanzvermittlung, Nachwuchsförderung, sozialintegrative Projekte, Schnupperkurse und Fachaustausch langfristig unterstützt und nachhaltig fördert“ gibt Rodriguez Romero als Ziel für die nächsten Jahre aus.

Text und Fotos: Julia Neuburg