Nr. 1/2021

„Wir untersuchen den Gelenkknorpel von Astronauten, die ein Jahr lang auf der ISS leben werden“

Bereits als Schülerin interessierte sich Anja Niehoff für Sport und Biologie. Ihr Berufsziel zunächst: Lehrerin. Dafür kommt sie aus einem Städtchen im Münsterland in die große Universitätsstadt Köln. Doch als sie ihr erstes Staatsexamen und den Platz für das Referendariat schon in der Tasche hat, entscheidet sie sich nochmal um. Heute befasst sich die 48-jährige Professorin mit der Anpassung von Knochen und Knorpel, insbesondere im Rahmen der Weltraumforschung.

„Während meiner Diplomarbeit ist mir klargeworden, dass mich das wissenschaftliche Arbeiten sehr fasziniert. Zur Knochenreifung und Belastbarkeit im Sport habe ich damals alles gelesen, was mir in die Finger kam und ich entwickelte Ideen, wie man weiter dazu forschen könnte“, erinnert sich Anja Niehoff. Für die junge Absolventin war schnell klar: Wissenschaft ist ihr Ding. Es folgten Doktorarbeit, Habilitation, Abteilungsleitung und ein eigener Forschungsschwerpunkt am Institut für Biomechanik und Orthopädie.

Seit 2013 leitet sie die Abteilung „Gewebemechanik und Mechanobiologie“. Ihr Team ist mit drei Doktorand*innen, einem PostDoc und zwei wissenschaftlichen Hilfskräfte relativ klein, aber dennoch äußerst produktiv: Regelmäßig können Niehoff und Co. namhafte Drittmittelgeber mit spektakulären Forschungsprojekten überzeugen und Fördermittel einwerben, z.B. über die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) oder die Weltraumagenturen NASA, ESA und DLR. „Die Gewebemechanik erforscht, wie externe Kräfte auf Gewebe wirken und wie sich die morphologischen, biochemischen und mechanischen Eigenschaften des Gewebes dadurch verändern. In der Mechanobiologie wird untersucht, welchen Effekt mechanische Kräfte auf Zellen und das Zellverhalten haben, insbesondere wie mechanische Kräfte in eine zelluläre Antwort übersetzt werden. Dies wird auch Mechanotransduktion genannt“, erklärt die Wissenschaftlerin. Ihr Forschungsansatz reicht somit von der einzelnen Zelle bis zum kompletten Menschen: „Auf diese Weise versuchen wir, das gesamte Puzzle zusammenzusetzen.“

Dass die Wissenschaftlerin ein Faible für Knochen und Knorpel hat, zeigt sich auch in ihrem Büro: Auf dem Fensterbrett hat sie einige Knochen kunstvoll arrangiert. „Ein Urlaubsmitbringsel einer Doktorandin“, erzählt Niehoff lachend. Es sollen angeblich Knochen von Seelöwen sein. Die Forscherin erklärt, wie ein Versuchsaufbau im Labor aussieht: „Wir isolieren Knorpelzellen aus menschlichem oder tierischem Gewebe und züchten die Zellen, die sich in der Petrischale vermehren. Dann werden die Zellen auf eine Membran gesetzt, die verformbar ist, die Zellen heften sich an. Wenn mit Hilfe eines speziellen Versuchsaufbaus an der Membran gezogen wird, werden die Zellen mechanisch belastet, sozusagen trainiert.“

Im Laborversuch kann die Wissenschaftlerin genau definierte Belastungsprotokolle aufbringen und weiß somit exakt, welche Belastung an der Zelle ankommt. „Das macht es beim Laborexperiment möglich, den Zusammenhang zwischen der Charakteristik einer mechanischen Belastung und der Zellreaktion zu beschreiben“, nennt Niehoff den Vorteil. Ihr Erkenntnisgewinn aus über 20 Jahren Forschung: „Unser gesamter Körper ist darauf ausgelegt, auf mechanische Belastungen zu reagieren und sich daran anzupassen. Wenn wir uns also nur irgendwohin legen würden, würde unser Körper sehr schnell degenerieren und seine Funktionalität verlieren.“

Um den Abbau von Strukturen geht es bei den hochkarätigen Projekten, die Anja Niehoff und ihr Team mit der Europäischen Weltraumorganisation ESA und der US-Weltraumbehörde NASA durchführen. Bei Astronaut*innen sorgt die Schwerelosigkeit dafür, dass der Bewegungsapparat viel geringer belastet wird als dies auf der Erde der Fall wäre. Diese Mikrogravitation lässt Muskeln und Knochen degenerieren, sie werden abgebaut. Niehoff erklärt begeistert: „Das Einzigartige insgesamt an diesen Studien ist, dass sie auch uns Menschen auf der Erde zugutekommen. Denn: Aus solchen kontrollierten und standardisierten Studien an gesunden Menschen erhält man sehr valide Ergebnisse, die uns helfen zu verstehen, welche Rolle Immobilisation bei der Entstehung von Erkrankungen des Bewegungsapparates spielt.“

Was in Schwerelosigkeit mit dem Gelenkknorpel passiert, hatte bis dato noch niemand untersucht. Niehoff und Kolleg*innen waren die Ersten, die Blut- und Urinbiomarker sowie MRT-Messungen einsetzten, um die Knorpeladaptation zu beschreiben. Sie fanden unter anderem heraus, dass eine Veränderung von Knorpelbiomarkern nach der Rückkehr von der Internationalen Raumstation, ISS, messbar ist, und dass der Gelenkknorpel nach längeren Aufenthalten in Schwerelosigkeit für die mechanische Belastung auf der Erde unter Gravitation weniger gut vorbereitet ist. Die Astronauten wurden bis ein Jahr nach ihrer Rückkehr untersucht. Niehoffs Empfehlung: „Das Rehabilitationsprogramm sollte den Gelenkknorpel berücksichtigen, die mechanischen Belastungen sollten zunächst sehr gering sein und nur sehr langsam gesteigert werden, weil der Knorpel sehr viel länger braucht, um sich wieder zu erholen.“

Diese Forschung wird umso wichtiger, je länger die Aufenthalte im Weltraum werden. „Bisher haben wir Astronauten untersucht, die mindestens vier bis sechs Monate auf der ISS gelebt haben. Wenn man an einen Flug zum Mars oder sogar an einen Aufenthalt auf dem Mars denkt, werden diese Zeiten noch länger werden. Daher haben wir aktuell ein Projekt von der NASA bewilligt bekommen, bei dem wir Astronauten untersuchen, die ein Jahr lang durchgehend auf der ISS leben werden. Wir wurden dafür als einziges Projekt aus Deutschland ausgewählt. Das Interessante an dem Projekt ist, dass viele verschiedene Untersuchungen an den Astronauten zeitgleich laufen, zum Beispiel Studien zum Herz-Kreislaufsystem, zum Gehirn, zu Knochen und Muskeln, zum Gelenkknorpel“, berichtet Niehoff. Aktuell bereitet das Team die Studie vor; es ist geplant, dass im Laufe dieses Jahres der erste Proband zur ISS fliegt.

Anja Niehoff hat eine Leidenschaft für die Weltraumforschung entwickelt. Am Whiteboard über ihrem Schreibtisch hängen Fotos mit Autogrammen von Astronauten, mit denen sie in den Projekten zusammengearbeitet hat, unter anderem Alexander Gerst, dessen Gelenkknorpel sie ebenfalls untersuchte. „Für ein paar Wochen könnte ich mir vorstellen, auf der ISS zu leben, aber nicht für ein ganzes Jahr“, erzählt sie. Einblicke in die verschiedenen Studien zu bekommen, die Schwerelosigkeit und den Blick auf die Erde zu erleben – das würde die Wissenschaftlerin reizen. „Ein kleines Hindernis könnte sein, dass ich sehr schnell reisekrank werde“, ergänzt sie noch und lacht.

Für ihre Forschungsprojekte mit der DFG muss Niehoff nicht ins Weltall. Untersuchungsobjekt ist hier die so genannte extrazelluläre Matrix – das Gewebe zwischen den Zellen, das aus einer Grundsubstanz und aus Fasern besteht. In den Projekten, die auch Teil der DFG-Forschungsgruppe 2722 sind, wird untersucht, welche Funktion die drei verschiedenen Proteine Plastin 3, COMP und Kollagen IX auf die Entstehung von degenerativen Gelenkerkrankungen, z.B. Osteoarthrose, im Zusammenhang mit mechanischer Belastung haben. „Mich treibt die Neugier an, herausfinden zu wollen, warum körperliche Aktivität beziehungsweise mechanische Belastung so wichtig ist für die Gesundheit des muskuloskelettalen Bewegungssystems. Genauso entscheidend ist für mich die Frage, welche Mechanismen, die durch mechanische Belastung initiiert werden, Erkrankungen auslösen“, sagt die Professorin, die die stellvertretende Sprecherin der Forschungsgruppe ist. „Die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe ist extrem fruchtbar und bietet ausgezeichnete Voraussetzungen für meine Forschung“. 

Interdisziplinäres Arbeiten und den Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis sieht Anja Niehoff als wichtigen Teil ihrer Arbeit an. Das zeigt sich unter anderem in ihrem Engagement für das Cologne Center for Musculoskeletal Biomechanics (CCMB), dessen wissenschaftliche Leiterin sie seit 2013 ist. Dieses interdisziplinäre Forschungszentrum der Deutschen Sporthochschule Köln und der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln umfasst verschiedene Arbeitsgruppen aus Instituten und Kliniken und verbindet so Grundlagenforschung mit klinischer Forschung. Sie alle eint das Ziel, Erkrankungen von Muskeln und Skelettsystem, so genannte muskuloskelettale Erkrankungen, besser zu verstehen. „Wir verfolgen einen sehr pragmatischen translationalen Ansatz: ‚From bench to bedside and back!‘ Das heißt, die Ergebnisse aus der Grundlagenforschung sollen direkt dem Patienten und der Patientin zugutekommen, aber auch Fragestellungen aus der Klinik sollen mittels Grundlagenforschung geklärt werden “, erklärt Niehoff, die eng mit der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie zusammenarbeitet.

Wichtig ist ihr auch, in der akademischen Selbstverwaltung und der Leitung einer Hochschule Erfahrungen zu sammeln. Seit Mai 2020 ist sie als Prorektorin der Deutschen Sporthochschule Köln für den Wissens- und Technologietransfer zuständig. „Unsere Erkenntnisse sollten nicht nur in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht werden, sondern müssen unbedingt in die Praxis transferiert werden. Unsere Forschung an der Sporthochschule ist dafür prädestiniert, weil sie anwendungsorientiert und interdisziplinär ist“, fasst Niehoff zusammen. Aktuell wird die Transferstrategie überarbeitet. „Wir wollen noch professionellere Strukturen auf- und ausbauen, um die Studierenden und Mitarbeiter*innen bei ihren Transferaktivitäten zu unterstützen. Denn: Es geht nicht nur darum, unser Wissen nach außen zu tragen, sondern auch Bedarfe aus Industrie und Gesellschaft aufzunehmen. Transfer funktioniert in beide Richtungen.“

Auf Anja Niehoffs Schreibtisch türmen sich Papiere und Unterlagen. Sie sind säuberlich auf verschiedene Stapel verteilt, je nach Projekt. „Im Prinzip ist meine Arbeit nie zu Ende, weil ich ununterbrochen an Anträgen, Artikeln oder Forschungsideen arbeiten könnte“, erklärt sie und betont: „Ich habe aber auch noch andere Hobbies als meine Arbeit!“ Arbeit gleich Hobby? „Absolut! Weil mir die Arbeit wirklich riesigen Spaß macht und mich nach all den Jahren immer noch fasziniert“.

Text: Julia Neuburg

Fotos: Anja Niehoff