Nr. 4/2022

Heilsame Pferde: Den Therapieerfolg messbar machen

Therapeutisches Reiten soll Menschen mit verschiedenen Erkrankungen helfen; zum Beispiel Kindern mit ADHS, wiederkehrende Abläufe zu erlernen, zu entspannen und sich in Folge besser selbst zu kontrollieren. Das Problem: Auf die heilsame Wirkung des Reitens schwören zwar viele Patient*innen und Therapeut*innen, die Effekte sind aber bisher nicht evidenzbasiert belegt. Isabel Stolz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft, hat eine App entwickelt, die diese Forschungslücke schließen soll und dazu beitragen könnte, dass Therapeutisches Reiten mehr Menschen zugänglich wird.

Sie sind groß, stark, ihr Fell ist weich und mit ihren langen Wimpern und dunklen Kulleraugen vermögen sie sogar Menschen zu erobern, die sonst nicht allzu viel mit Tieren anfangen können: Pferde. Vor allem den ruhigen Kaltblütern wird nachgesagt, dass sie mit ihrem sanften Gemüt bei verschieden Erkrankungen eine heilsame Wirkung haben können. Diesen Effekt macht sich das Therapeutische Reiten zunutze, bei dem die Erkrankten auf vielfältige Weise mit Pferden in Kontakt kommen oder auf ihnen reiten. Die Interaktion mit den Tieren – so beschreibt es Isabel Stolz vom Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft – kann beispielsweise Kindern helfen, die sich nur schwer auf eine klassische Therapie in einer Praxis einlassen können. Bei Aufmerksamkeitsdefizits-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) können Pferde die Patient*innen dabei unterstützen, wiederkehrende Abläufe zu erlernen, Körperspannung aufzubauen und sich zu entspannen oder ihre Emotionen besser zu regulieren. Die rhythmischen Bewegungen des Pferdes können beim Reiten in physiotherapeutischer Therapieform (Hippotherapie) etwa bei der Multiplen Sklerose das Gangbild, die Balance oder die Koordination verbessern. Der Haken: Die vielfältigen Wirkungen, die Therapeut*innen dem Reiten zuschreiben, sind bislang nicht ausreichend wissenschaftlich belegt.

Isabel Stolz will die Effekte des Therapeutischen Reitens messbar...

Isabel Stolz will die Effekte des Therapeutischen Reitens messbar machen

Isabel Stolz forscht im Rahmen ihrer Promotion zu den Effekten des Therapeutischen Reitens und dazu, wie man diese messen kann. Sie sagt, dass Therapeut*innen derzeit ein Tool fehle, um den Therapieerfolg passgenau zu erfassen. Forschenden fehle wiederum die Möglichkeit, die Effekte aus verschieden strukturierten Therapieprotokollen mit den allgemeingültigen Anforderungen aus dem Gesundheits- und Rehabilitationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu verknüpfen. „Es ist zwar allgemein bekannt und akzeptiert, dass Therapeutisches Reiten positive Effekte erzielen kann“, sagt Isabel Stolz, „weil aber die wissenschaftliche Evidenz fehlt, werden Therapiestunden nicht über Kostenträger – zum Beispiel im Gesundheitswesen – finanziert.“

In einer knapp zweieinhalbjährigen Studie am Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport mit verschiedenen Projektpartnern hat sie ein Beurteilungstool entwickelt, das den Therapieerfolg des Therapeutischen Reitens messbar machen kann. Es basiert auf der sogenannten ICF-Klassifizierung der WHO. ICF steht für „International Classification of Functioning, Disability and Health” und dient in Rehabilitationskontexten dazu, die Funktionsfähigkeit eines Menschen bezogen auf Person, Körper, Teilhabe und Umwelt ganzheitlich abzubilden. Funktionsfähigkeit beschreibt in diesem Zusammenhang den Gesundheitszustand einer Person und inwiefern sie in der Lage ist, in der jeweiligen Umgebung aktiv am Leben teilhaben zu können. Anhand der Klassifizierung nach ICF werden unter anderem Gesundheitssysteme überwacht und der Erfolg von Rehabilitationsmaßnahmen abgeleitet.  Die ICF-Klassifizierung soll in dem von Isabel Stolz entwickelten Tool ermöglichen, dass die Therapieerfolge nicht nur von Therapeut*innen dokumentiert, sondern auch auf die Klassifizierung des Gesundheits- und Rehabilitationssystems und dadurch die international gemeinsame Sprache der WHO übertragen werden können.

WHO-Klassifizierung vs. therapeutische Praxis: Ein neues Tool schafft...

WHO-Klassifizierung vs. therapeutische Praxis: Ein neues Tool schafft die Verbindung

Weil die einzelnen Kategorien der ICF-Klassifizierung für Menschen, die nicht aus dem Gesundheitssystem kommen, teilweise schwer nachzuvollziehen und sperrig formuliert seien, hat Stolz die Klassifizierung in ihrem Tool allgemeinverständlich formuliert und genau an das Therapeutische Reiten angepasst. Im Laufe der Therapie können Reittherapeut*innen die Funktionsfähigkeit anhand einer 10er Skala sowie die für ihren Therapiebereich relevanten Erfolge in Form einer standardisierten Bewertung präzise ermitteln. „Mithilfe des Tools kann man anschauen, wie bestimmte Aufgaben durchgeführt werden – zum Beispiel die Greiffunktion als Indikator für die Feinmotorik. Zu Beginn der Therapie würden wir schauen, wie es um die Feinmotorik des Kindes bestellt ist und im Verlauf beurteilen, inwiefern sich das Kind verbessern konnte und inwiefern die Therapie einen Einfluss darauf gehabt hat“, erklärt Stolz. Erziele die Therapie einen Erfolg, würde das Kind am Ende der Therapie einen höheren Wert erreichen, der mit dem Tool erfasst werden kann. „Die Kernfunktion des Beurteilungstools ist die automatisierte Auswertungsfunktion. Mit dieser können Therapeut*innen die Therapieeffekte mit einem Klick ausgeben und sich anzeigen lassen – mit Graphen, Mittelwerten, Kreisdiagrammen und einzelnen Items“, beschreibt Stolz.

Um das jetzige Endprodukt ihrer Forschungsarbeit zu entwickeln, die EQUITEDO-App – kurz für "Equi - Therapie - Dokumentation“, führte Stolz vier verschiedene Untersuchungen durch. Zunächst ermittelte sie auf Basis qualitativer Fokusgruppeninterviews mit Expert*innen aus dem Therapeutischen Reiten die zentralen Ziele und Inhalte der Therapien. In einem weiteren Schritt wurden die genannten Ziele und Inhalte mit Hilfe zweier unabhängiger Bewertungspersonen mit der ICF-Klassifizierung abgeglichen und ein neues Pilot-Bewertungstool konstruiert. In einem dritten Schritt wurde der Prototyp im therapeutischen Setting erprobt und nachfolgend auf Basis der Praxiserfahrungen angepasst und reduziert. Wichtig war Stolz, dass das Tool spezifisch auf das Therapeutische Reiten zugeschnitten, für Therapeut*innen einfach zu handhaben und zeiteffizient ist. Außerdem sollte es nicht nur den Therapieerfolg messen können, sondern Therapeut*innen auch in der täglichen Dokumentation unterstützen. Zuletzt testete Stolz ihre Entwicklung mit 265 Personen in der therapeutischen Praxis. Über 800 Assessments wurden im Zeitverlauf beurteilt. Alle statistischen Analysen konnten bestätigen: Das Tool bildet zuverlässig die Effekte ab, die es messen soll, und kann in der Therapie eingesetzt werden.

EQUITEDO hilft, therapeutische Qualität abzubilden

Seit wenigen Wochen steht Therapeut*innen nun die „EQUITEDO-App“ zum Download zur Verfügung. Perspektivisch, so Isabel Stolz, sollen durch die App die therapeutischen Potentiale und konkreten Auswirkungen der pferdegestützten Therapien erhoben und in größeren Stichproben geprüft werden können – auch international. „Aufgrund strenger Datenschutzrichtlinien können wir uns die Nutzungsdaten aus der Praxis nicht ausgeben lassen. Wir planen aber eine große Folgestudie, in der wir mit Hilfe der App und auf Basis einer größeren Stichprobe Therapieerfolge abbilden und Daten systematisch statistisch auswerten können“, so Isabel Stolz.

Für die Wissenschaft und die Fachpraxis sei jetzt in erster Linie aber wichtig, dass das Instrument breit genutzt werde, so Stolz. „Wir haben mit diesem Tool eine Basis geschaffen, auf welcher die therapeutische Qualität abgebildet werden kann, um perspektivisch fundiertere Aussagen über die Therapieerfolge machen zu können“. Mithilfe der bisher fehlenden Daten könnte in Deutschland, aber auch international, besser abgeschätzt werden, welchen Mehrwert die pferdegestützte Therapie konkret hat. Die Daten könnten perspektivisch durch Kosten-Nutzen-Untersuchungen auch Aufschluss geben, ob das Therapeutische Reiten wirtschaftlich und bei bestimmten Erkrankungen auf lange Sicht sinnvoll ist. Um die Therapieform standardmäßig im Gesundheitssystem verankern zu können, sei ein evidenzbasierter Wirksamkeitsnachweis eine wichtige Grundlage um in Gespräche mit Kostenträgern eintreten zu können– zum Beispiel Krankenkassen. Denn sie entscheiden, ob Therapiekosten zukünftig übernommen werden.

In den ersten Tagen sei die App schon von 75 Therapeut*innen heruntergeladen worden, sagt Isabel Stolz. In den nächsten Wochen – so hofft sie – kommen noch weitere Nutzer*innen dazu. Zusammen mit ihnen könnte es gelingen, zukünftig mehr Menschen die Therapieform zugänglich zu machen. Dass die App die präzise Erfassung von therapeutischen Wirkungen  fördert, ist für Isabel Stolz nicht nur aus wissenschaftlicher Perspektive interessant, sondern auch weil sie als Springreiterin selbst um die erstaunlichen Effekte des Reitens weiß: „Ich kenne das Gefühl genau, auf einem Pferd zu sitzen, seine Bewegungen zu spüren und sich in diesem Moment vollkommen auf die Situation  zu fokussieren. Schon lange ist mir bei Trainingseinheiten aufgefallen, welche Wirkungen Pferde gerade bei Kindern erzielen. Ich finde es faszinierend, diese Effekte anhand wissenschaftlicher Methoden messbar zu machen. Ich hoffe, dass dies mit EQUITEDO nun gelingt.“

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