Nr. 6/2020

Social Media-Nutzung und Selbsteinschätzung im Parkoursport

Wie ticken Parkoursportler*innen? Welches Bild haben sie von sich selbst und anderen Athlet*innen? Und welche Rolle spielen dabei die sozialen Medien? Birgit Braumüller vom Institut für Soziologie und Genderforschung und Philipp Holzmüller, Bachelorabsolvent und Masterstudent der Deutschen Sporthochschule Köln, sind diesen Fragen auf den Grund gegangen. Dabei bedienten sie sich eines theoretischen Modells der Psychologie, dem physischen Selbstkonzept. Im September 2020 erschien ihr Artikel „Climb ups or thumbs ups? Identifying determinants for parkour-related physical self-concepts of traceurs based on training data and social media use” im German Journal of Exercise and Sport Research.

Es wird oft spekuliert, dass die wachsende Nutzung sozialer Medien, insbesondere unter Jugendlichen, auf Kosten sportlicher Aktivitäten geht. Die empirische Forschung ist sich in diesem Punkt uneins. Weitgehend einig sind sich Wissenschaftler*innen hingegen bei zwei Aspekten: Erstens, wenn soziale Medien in sportbezogenen Kontexten eingesetzt werden, verstärken sie eher die sportlichen Aktivitäten. Zweitens profitieren Sportler*innen aus informellen Sportarten besonders von einer engen Beziehung zwischen dem Sport und der Nutzung sozialer Medien, da sie so ihre Netzwerke virtuell verbinden und mit ihnen kommunizieren.

Eine dieser informellen Sportarten ist Parkour – eine Fortbewegungsart, bei der es darum geht, möglichst effizient und nur mit dem Einsatz der eigenen körperlichen Fähigkeiten von A nach B zu kommen. Hindernisse im urbanen oder natürlichen Raum werden effektiv, oftmals kreativ und spektakulär, überwunden. Parkoursportler*innen werden im Fachjargon „Traceure“ bzw. „Traceusen“ genannt, was so viel bedeutet wie: „der, der eine Linie legt“. Charakteristisch für Parkoursportler*innen ist, dass sie nicht in einer klassischen Vereins- und Verbandsstruktur organisiert sind. Stattdessen scheinen die sozialen Netzwerke hier eine besonders große Bedeutung zu haben – sie sind ihre digitale Community. Die aktive Teilnahme in den sozialen Medien wird als essentiell angesehen und als wesentlich für die Authentizität der Parkourathlet*innen. Allerdings gibt es in der Community mittlerweile auch Stimmen, die Social Media kritisch gegenüberstehen. Sie bemängeln, manchen Parkoursportler*innen würde es ausschließlich darum gehen, sich über die sozialen Plattformen selbst zu präsentieren und zu inszenieren, um die meisten Likes und Klicks zu erhalten; die sportliche Leistung trete dabei zu sehr in den Hintergrund.

Dem Zusammenhang zwischen der Sportart Parkour und der Social Media-Nutzung von Parkourathlet*innen sind Philipp Holzmüller und Birgit Braumüller auf den Grund gegangen. Dazu nutzen sie ein Modell aus der Psychologie: das Selbstkonzept von Shavelson, Hubner und Stanton von 1976. Im Selbstkonzept fasst ein Mensch sein Selbstbild (wie er sich selbst wahrnimmt) und das Idealbild (wie er gerne sein möchte) zusammen. Dazu gehört das Wissen über persönliche Eigenschaften, Fähigkeiten, Vorlieben, Gefühle und Verhalten. Ein Teil des allgemeinen Selbstkonzepts ist das physische Selbstkonzept (PSK), das sich vor allem auf den Körper bezieht. Es ist über sogenannte Skalen messbar, welche die körperlichen Fähigkeiten (Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Beweglichkeit, Koordination und allgemeine Sportlichkeit) sowie die physische Attraktivität messen.

Um das Konzept auf die Sportart Parkour zu übertragen und die parkourspezifischen Fähigkeiten in den Blick nehmen zu können, übertrugen Braumüller und Holzmüller das Modell von Shavelson, Hubner und Stanton in einen parkourspezifischen Kontext. Sie entwickelten ein parkourbezogenes physisches Selbstkonzept (pkPSC). „Das pkPSC umfasst zwei Bereiche: sportliche Kompetenz und Ästhetik/Stil. Zur sportlichen Kompetenz zählen Elemente von Fitness und Ausführung, während Ästhetik/Stil das Erscheinungsbild von Läufen und Bewegungen einschließt“, erklärt Holzmüller, der selbst als begeisterter Parkoursportler bestens in der nationalen und internationalen Community vernetzt ist. Das pkPSC machte er zum Thema seiner Bachelorarbeit an der Deutschen Sporthochschule Köln. „Um das physische Selbstkonzept eines Parkoursportlers zu erfassen, haben wir einen Fragebogen konzipiert. Dieser enthält 20 parkourspezifische Aussagen. Ein Beispiel: ‚Ich habe präzise Landungen.‘ Auf einer fünfstufigen Skala von ‚Trifft voll zu‘ bis ‚Trifft überhaupt nicht zu‘ geben die Befragten dann ihre Selbstbewertung dazu ab“, erklärt der Autor. Am Ende steht eine Punktzahl, die die Selbsteinschätzung des Athleten bezogen auf Parkour widerspiegelt. Je höher die Punktzahl, desto positiver die Selbsteinschätzung der Befragten. Das nun erschienene Paper „Climb ups or thumbs ups?“ greift auf diese in 2018 erhobenen Daten zurück und betrachtet sie im Hinblick auf eine zweite Forschungsfrage. Diese lautet: Inwieweit wird das parkourbezogene physische Selbstkonzept (pkPSC) von Parkourathlet*innen durch soziodemografische Merkmale, Training und Social-Media-Nutzung bestimmt?

Über Instagram und Facebook Messenger konnten Parkourathlet*innen an der Onlineumfrage teilnehmen. Die Akquise führte zu einem umfassenden Datensatz mit 458 gültigen Fällen. Die Proband*innen wurden daraufhin in zwei Gruppen unterteilt; die eine Gruppe wurde gebeten, die eigenen Parkourfähigkeiten mit der lokalen Trainings-Community vor Ort zu vergleichen, die andere Gruppe mit der virtuellen Community, mit der sie in den sozialen Netzwerken verbunden ist.Neben soziodemografischen Merkmalen erfasste der Fragebogen auch die Nutzung von sozialen Medien, das Parkourtraining sowie die Selbsteinschätzung der parkourbezogenen Fähigkeiten. Die Daten beschreiben typische Parkourathlet*innen als männlich, zwischen 20 und 29 Jahre alt, mit einer Trainingserfahrung zwischen drei und fünf Jahren und einer Trainingshäufigkeit von zwei bis drei Tagen pro Woche.

Zur Analyse der Daten im Hinblick auf die Forschungsfrage führten die Autor*innen drei multiple Regressionsanalysen durch. Die multiple Regressionsanalyse ist eine statistische Methode, die zum Ziel hat, Beziehungen zwischen einer abhängigen und mehreren unabhängigen Variablen zu erklären. In der vorliegenden Studie war die abhängige Variable das pkPSC der Athlet*innen, die unabhängigen Variablen die soziodemografischen Angaben (Alter, Geschlecht), die Social Media-Nutzung (Zeit, Postings, Follower) und das Parkourtraining (Häufigkeit, Erfahrung, Gruppengröße).
„Alle Variablen, abgesehen von der Größe der Trainingsgruppe, zeigen positive Korrelationen mit dem pkPSC“, skizziert Holzmüller das Gesamtergebnis. Die Regressionsanalysen zeigen, dass die Variablen zum Parkourtraining den größten Einfluss auf das parkourbezogene physische Selbstkonzept aller Befragten haben. Männliche und jüngere Athleten haben ein signifikant höheres pkPSC als weibliche und ältere Athlet*innen. Bei den Parkourathlet*innen, die sich mit ihrer Online-Community verglichen, fällt auf, dass das Posten von parkourrelevanten Inhalten auf Social Media eine wichtige Einflussvariable ist. Aber: „Es könnte nicht das aktive Postingverhalten sein, das einen hohen pkPSC vorhersagt, sondern ein hoher pkPSC, der ein aktives Postingverhalten vorhersagt oder zumindest fördert“, deutet Braumüller, Betreuerin der Bachelorarbeit und Mitautorin des Papers, diesen Punkt.

Innerhalb der Parkourgruppe, die sich mit der lokalen Trainingsgruppe verglich, haben die Variablen Trainingserfahrung und -häufigkeit den größten Effekt auf die Selbsteinschätzung. „Vor dem Hintergrund, dass Parkour eine anspruchsvolle sportliche Aktivität ist, die sowohl körperliche als auch mentale Fähigkeiten fordert, ist es nicht verwunderlich, dass wir als stärkste Effekte die trainingsbezogenen Variablen identifizieren konnten“, kommentiert die Wissenschaftlerin das Ergebnis. Konkret: Athlet*innen, die öfter trainieren, bewerten ihre Leistungsfähigkeit und ihr Selbstkonzept positiver als Befragte, die weniger aktiv sind. Die Wirkung kann auch umgekehrt interpretiert werden: Ein positives Selbstkonzept kann Athlet*innen helfen, sportliche Fähigkeiten zu erwerben und Aufgaben zu lösen.

Die Studie hat einige Limitationen, geben die beiden Autor*innen zu, unter anderem: „Bei manchen Variablen können wir keine eindeutige Kausalität ausweisen. Zudem hat eventuell die onlinebasierte Datenerhebung einen Einfluss auf den Datensatz. Außerdem haben wir keine weiteren sportlichen Aktivitäten abgefragt, die die Parkourathleten möglicherweise ausüben und die ebenfalls einen Einfluss auf das Selbstkonzept haben könnten“, legt Birgit Braumüller dar. Das Fazit: Die Social Media-Nutzung hat keinen so großen Einfluss auf die Selbsteinschätzung der Parkoursportler*innen, wie zu erwarten gewesen wäre. Stattdessen wird ein hohes parkourbedingtes körperliches Selbstverständnis vor allem durch die tatsächliche Zeit bestimmt, die die Athlet*innen in ihre Trainingsaktivitäten investieren, also Trainingshäufigkeit und jahrelange Trainingserfahrung. „Obwohl Parkour und soziale Medien eine starke Beziehung teilen, wird das parkourbezogene körperliche Selbstkonzept stärker durch Aktivitäten und Eigenschaften des realen Lebens beeinflusst als durch Gewohnheiten in sozialen Medien“, sagt Parkoursportler Holzmüller.

Leser*innen, die sich für Parkour interessieren und noch mehr darüber erfahren möchten, dürfen sich auf den Sommer 2021 freuen; dann erscheint das erste Buch von Philipp Holzmüller über Parkour(-Coaching) im Meyer & Meyer-Verlag.

Text: Julia Neuburg