Nr. 6/2020

#digitanz - Mit Mr. Griddle zu mehr Bewegungskreativität

Mr. Griddle klingt wie eine Figur aus Harry Potter. Auch mit einer Grillplatte, was Griddle aus dem Englischen übersetzt heißt, hat dieser Mister nichts zu tun. In dem Forschungsprojekt #digitanz ist Mr. Griddle sozusagen der Vortänzer. Das Team um Professorin Claudia Steinberg (Leiterin des Instituts für Tanz und Bewegungskultur) und ihre Mitarbeiterin Maren Zühlke hat eine Webanwendung für die Tanzvermittlung im Schulunterricht entwickelt. Das digitale Tool wurde für das Smartphone konzipiert und kann unkompliziert, ortsunabhängig und kostenfrei im Schulunterricht eingesetzt werden.

Frau Steinberg, was verbirgt sich hinter dem Projekt #digitanz?
Steinberg: In unserem Forschungsprojekt geht es um Digitalität und Tanz in der kulturellen Bildung. Im Mittelpunkt stehen zwei Komponenten: zum einen die technische Entwicklung von digitalen Tools und zum anderen deren empirische Erforschung. Die digitalen Tools gründen auf Anwendungen, die in der Tanzkunst bereits eingesetzt werden. Wir brechen diese für das pädagogische Setting runter und machen sie anwendbar. Anschließend erforschen wir den Einsatz: Wie funktioniert die Handhabung? Was passiert mit der Person, die das Tool anwendet?

Ein digitales Tool, das bereits entwickelt und erprobt ist, ist eine Webanwendung zur Tanzvermittlung im Schulunterricht. Was kann das Tool?
Zühlke: Es gibt verschiedene Anwendungen, wie zum Beispiel das Tool Wortwolke, Raum oder unseren Mr. Griddle. Mr. Griddle ist ein Posen-Generator. Griddle kommt von Grid – ein Kachelsystem, in dem er sozusagen hängt. Er ist ein Strichmännchen, das per Zufallsgenerator Posen erstellt, die die Schülerinnen und Schüler dann nachmachen sollen – aber auf ihre eigene Art und Weise. Denn die Posen entsprechen nicht ganz der menschlichen Anatomie. So werden sie angeregt, kreativ zu sein. Hinzu kommt, dass Mr. Griddle frei im Raum hängt. Das ist Absicht in der Hinsicht, dass frei interpretiert werden kann, ob er steht, liegt oder springt. Die Pose ist weder orts- noch raumgebunden. Da Tanz aber in der Bewegung passiert und nicht in stillen Posen, besteht eine Aufgabe zum Beispiel darin, sich zwei Posen von Mr. Griddle auszusuchen und diese miteinander zu verbinden. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt – es gibt verschiedenste Möglichkeiten, Mr. Griddle einzusetzen.

Können Sie ein Beispiel für das Tool Wortwolke nennen?
Steinberg: Die Wortwolke beinhaltet bewegungsnahe Adjektive, wie hacken, schmelzen, rollen oder schneiden. Eine Aufgabe könnte zum Beispiel heißen: ‚Wenn ihr eure eigene Wortwolke aus mehreren Begriffen zusammengestellt habt, dann möchte ich gerne, dass ihr die Smartphones wieder in die Halterungen steckt und dazu zur Musik improvisiert.‘ Auch dieses Tool soll die Schülerinnen und Schüler zu Bewegungen, vor allem zu neuen Bewegungen, anregen. Das Schöne an allen Tools ist, dass sie nicht Tanzstil-bezogen sind. Man kann die Begriffe auf Hip-Hop genauso anwenden, wie auf klassischen Paartanz: sich schmelzend, sich fließend, sich abgehackt bewegen. Unsere Webanwendung ist kein Tool zum Erlernen von Tanzschritten. Es werden Grundlagen der menschlichen Bewegung vermittelt, erprobt und angeregt.

Warum haben Sie sich für die Entwicklung einer Webanwendung für das Smartphone entschieden?

Steinberg: Der Ruf nach digitalen Formaten im Bildungssektor ist nicht erst seit der Corona-Pandemie laut. Digitalisierung betrifft uns alle in der Gesellschaft und besonders das Smartphone ist ein allgegenwärtiger Ausdruck des digitalen Wandels. Wir haben das Smartphone immer bei uns, sind mobil und vernetzt – natürlich auch die Schülerinnen und Schüler. Es gibt ein Ausstattungskonzept in Schulen, das nennt sich Bring Your Own Device, kurz BYOD. Die Schule muss keine teuren Geräte anschaffen, Smartphones sind klein und handlich, man kann sie überall hin mitnehmen, ablegen oder draufklemmen. Wir haben uns für etwas leicht zu handhabendes entschieden, das in der Realität der Jugendlichen schon längst angekommen ist.
Zühlke: Es ist keine App, die man sich im Store runterlädt. Es ist bewusst noch einfacher gedacht - als webbasierte Anwendung, die sich über den Browser öffnen lässt. Es ist keine Installation notwendig und es wird kein Speicherplatz benötigt. Es gibt quasi keine Einstiegshürde.

Wie war die Erprobung in der Schule? Wie ist das Tool bei den Schülerinnen und Schülern angekommen?

Zühlke: Wir haben die Webanwendung und den Umgang mit ihr an einer Integrierten Gesamtschule in Mainz getestet – mit 19 Oberstufen-Schülerinnen eines Sportkurses. Die rein weibliche Zusammensetzung ergab sich aus dem Schwerpunktfach Tanz. An insgesamt vierzehn Terminen konnten wir für jeweils neunzig Minuten mit Hilfe eines Tanzpädagogen die Schülerinnen mit dem Tool anleiten. Dabei wurde aus vier Kameraperspektiven gefilmt, der Ton aufgezeichnet und alles technisch verknüpft. Der technische Aufbau war nötig, um möglichst viel über die laborhafte Praxis der Jugendlichen mit den Smartphones und der Webanwendung zu erfahren. Zusätzlich zur Videodokumentation haben wir Beobachtungsprotokolle, Einzelinterviews und Gruppeninterviews geführt. Fast alle Schülerinnen gaben an, dass sie durch die Webanwendung zu Bewegungen angeregt wurden, auf die sie sonst nicht gekommen wären – und diese Ideenproduktivität empfanden sie als etwas Positives. Und das war genau das, was wir wollten: das eigene Bewegungsrepertoire aufbrechen und erweitern.
Steinberg: Was aber auch ein sehr wichtiges Thema für die Schülerinnen war, war der Datenschutz. Im Gegensatz zu der lite-Version, die nun für alle frei zugänglich ist, konnten die Schülerinnen Videos und andere Dokumente hochladen. Ihnen war ganz wichtig, dass die Videos nicht von anderen gesehen werden können. Sie haben sie dann außerhalb des Unterrichts mit ihren Freunden per WhatsApp geteilt. Aber sie wollten die Kontrolle darüber haben, was sie teilen und was eben nicht. Und das ist ja auch ein ganz großes Potenzial, was sich da aufgetan hat: Zu hinterfragen, wie ich das überhaupt finde, dass ich gefilmt werde und dass das eventuell andere sehen könnten. Das ist ein wichtiger Reflexionsprozess. Das ist eine mobile Anwendung für die Bildung, für die Schule. Nicht nur für den Freizeitbereich.

Wie geht es mit dem Projekt #digitanz weiter?
Steinberg: Wir wollen die Daten in Hinblick auf weitere Innensichten auswerten. Denn sobald die Schülerinnen in Interaktion mit der Webanwendung am eigenen Smartphone traten, war von außen nicht einsehbar, was passiert. Die Daten werden im weiteren Prozess des Projekts hinsichtlich zweier Forschungsfelder ausgewertet, die sich mit den Themen Jugend, Bildung, Schulsport, Technologie und Tanz auseinandersetzen.

Wie fällt Ihre persönliche Bewertung aus? Ist Mr. Griddle ein geeigneter Tanzpartner?
Zühlke: Auf jeden Fall ein geeigneter Vortänzer. Einige Lehrkräfte haben Hemmungen, sich vor die Klasse zu stellen und etwas vorzutanzen – vor allem, wenn sie nicht aus dem Tanzbereich kommen. Statt sich selber vor die Klasse zu stellen, können sie Mr. Griddle hinstellen.
Steinberg: Außerdem kann man Verantwortung für eine verrückte Bewegung abgeben. Die ist dann nicht mehr personenbezogen, auf eine Lehrkraft, die uncool ist. Dann ist Mr. Griddle schuld, dass die Bewegung so kreativ ist, so ungewöhnlich. Einfach ins Kreative einsteigen!

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „#digitanz – Digitalität und Tanz in der kulturellen Bildung“ (Förderkennzeichen: 01JKD1706A und 01JKD1706B) wird in Kooperation mit der Hochschule Mainz (Forschungsgruppe Motion Bank) und der Universität Mainz durchgeführt.

Interview & Text: Lena Overbeck