„Autismus ist wie ein großer, schwerer Sumoringer"

Julian Leske bei seinem Vortrag im Rahmen der Aktionswoche zum Sport von Menschen mit Behinderungen

„Mein Name ist Julian Leske. Ich bin 26 Jahre alt und ich bin Autist“, mit diesen Worten beginnt der schmächtige junge Mann im hellblauen Poloshirt seinen Vortrag. Julian spricht selbstbewusst, ist eloquent und witzig. Eigenschaften, die nicht unbedingt typisch für einen Menschen mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung sind. An die Sporthochschule eingeladen hat ihn Professor Thomas Abel im Rahmen der Aktionswoche zum Sport von Menschen mit Behinderungen, damit er einen Einblick in sein Leben als Autist geben kann, in dem auch der Sport eine besondere Rolle spielt.

„Struktur ist für Autisten sehr wichtig“, erklärt Julian zu Beginn, daher hat er seinen Vortrag klar strukturiert, hält sich ganz genau an seine Zeitvorgaben und hat sich auf alle Eventualitäten und Fragen vorbereitet. Zwar wird Autismus als vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung definiert, für Julian umschreibt der Begriff der sozialen Unmündigkeit von Immanuel Kant das Phänomen am besten. „Für mich ist es extrem schwierig, soziale Situationen zu reflektieren und einzuordnen“, beschreibt er seinen speziellen Fall und bedient sich dabei eines Zitats von Dr. Stephen Shore: “If you’ve met one person with autism, you’ve met one person with autism.” Autismus sei einfach hochindividuell.

Julian erhält erst mit 18 Jahren die Diagnose Autismus; seine Eltern ahnen die Erkrankung zwar bereits, sagen ihm aber nichts davon, wofür er im Nachhinein sehr dankbar ist. Er hat zudem einige körperliche Einschränkungen, einen leichten Gehfehler und Arthrose, sowie eine Rechenschwäche. „Die Diagnosestellung war für mich ein Aha-Moment, denn von einen auf den anderen Tag haben sich viele Dinge und Verhaltensweisen erklärt. Ich bekam die Chance, mein Leben neu zu ordnen und zu überlegen, welcher Mensch ich sein möchte“, erinnert er sich. Auf Initiative eines Heilpädagogen beginnt Julian 2014 mit den ersten Vorträgen. Mittlerweile ist er häufig als Referent an Hochschulen anzutreffen. „Mit den Vorträgen verbinde ich zwei meiner Leidenschaften: Bahnfahren und Menschen kennenlernen“, außerdem spricht er einfach gerne und viel, liebt es, mit der Sprache zu spielen, an Formulierungen zu feilen. „Autismus ist wie ein großer, schwerer Sumoringer. Man kann nur mit Erfahrungen und ausgeklügelten Strategien damit umgehen“, sagt Julian.

Der Sport spielt für den jungen Mann eine besondere Rolle und an der Sporthochschule möchte er darauf gezielt eingehen. In der Schule sei der Sportunterricht für ihn eine „wöchentlich wiederkehrende Demütigung“ gewesen, die Bundesjugendspiele „der Gipfel der Unzulänglichkeit“. Immer als Letzter gewählt zu werden und immer wieder vor Augen geführt zu bekommen, was man nicht kann, haben ihn geprägt. Als der Heilpädagoge später vorschlägt, Sport zu treiben, ist Julian zunächst nicht begeistert. Doch kristallisiert sich schnell heraus, dass das Schwimmen, das er erst mit 16 Jahren lernt, für ihn ideal ist: „Schwimmen ist die perfekte Sportart für Autisten, von A nach B und von B nach A, zählen, unter Wasser den Verkehr auf der Gedankenautobahn abschwächen.“

Ein „Buch mit sieben Siegeln“ ist für den Autisten allerdings das Feld der sozialen Interaktion. „Mir fällt es extrem schwer, die körperlichen und emotionalen Signale meines Gegenübers richtig zu deuten“, erklärt er. Seine Strategie: Fakten sammeln, Wissen über Menschen anhäufen, Themen besetzen. Eine besondere Herausforderung sozialer Interkation ist die romantische Beziehung: „Im Umgang mit Frauen bin ich souveräner geworden, allerdings ist es immer noch sehr schwierig für mich, zu erkennen, wenn jemand Interesse hat, und darauf zu reagieren.“ So erblickte er mal am Münchner Hauptbahnhof eine hübsche junge Frau, hätte sie ansprechen können, was er nicht tat, und im Nachhinein stellte sich heraus, dass auch sie ihn sehr interessiert gemustert hatte. Eine moralische Klippe ist für den Verwaltungsfachangestellten (noch) der Kinderwunsch. „Das Weitervererbungsrisiko ist bei Autismus sehr hoch“, begründet er.

Ist für Julian Autismus eine Behinderung? Die Frage beantwortet er im Wortsinn: „Mich behindert die Krankheit, denn sie hält mich davon ab, sozial zu eskalieren.“ Diesem Problem begegnet Julian immer wieder mit seinem Willen zur ständigen Weiterentwicklung. „Autismus ist wie ein Speckstein, den man in der Hand hält: Durch viel Kneten und Drücken kann man ihn zu einem Handschmeichler formen.“