Zwischen Labor und Lagerfeuer
Wenn der Wind auf 5.000 Metern Höhe über die Hochebene fegt, ist an Romantik nicht zu denken. Steinwüste, Staub, Temperaturen weit unter null – und mittendrin ein Mann auf dem Fahrrad, der sich im Schritttempo nach oben kämpft. „Spaß macht das nicht“, sagt er trocken. Und doch leuchten seine Augen, wenn er von diesen Momenten erzählt. Denn genau dort, wo die meisten längst umkehren würden, beginnt für ihn das Abenteuer.
Dr. Frank Hülsemann ist Chemiker, Familienvater, Abteilungsleiter am Institut für Biochemie – und Extremsportler. Einer, der Expeditionen organisiert, die auf den ersten Blick absurd klingen: mit dem Fahrrad über die Seidenstraße, mit historischen Lederschuhen über die Anden, 1.000 Gipfel im Sauerland in 1.000 Stunden. Und doch steckt hinter all dem kein Geltungsdrang, sondern ein leiser, aber hartnäckiger Wunsch: herauszufinden, was möglich ist.
Vom Labor hinaus in die Welt
Geboren in Duisburg, aufgewachsen mit Chemiebüchern und Laboranekdoten seiner Eltern, die beide Chemotechniker sind, führte ihn der Weg zunächst an die Uni Köln, ins Chemie-Studium. Nach der Diplomarbeit am Forschungszentrum Jülich zog es ihn im Jahr 2000 für die Promotion an die Deutsche Sporthochschule Köln, wo er bis heute geblieben ist. Am Institut für Biochemie leitet er die Abteilung für den Isotopennachweis körperfremder Herkunft von Steroiden. „Wir weisen körperfremdes Testosteron und seine Stoffwechselprodukte im Urin von Athleten und Athletinnen nach. Jeder von uns hat Testosteron im Urin. Aber handelt es sich nicht um körpereigenes, sondern synthetisches, ist das ein Dopingverstoß“, erklärt der 53-Jährige. Sein Tagesgeschäft: Daten kontrollieren, Berichte schreiben, Beweise sichern und nachweisen, wenn im Sport Grenzen überschritten werden. Sobald die Arbeit getan ist, zieht es ihn hinaus – um die eigenen Grenzen auszutesten.
Schon während des Studiums schnürte er seine Laufschuhe – als Langstreckenläufer beim ASV Köln. Später zog es ihn aufs Rad – zunächst für Mittelstrecken, dann für weite Reisen. „Erst Italien, Frankreich. Dann irgendwann Alaska“, erzählt er. Aus den Radtouren wurden Expeditionen, aus Expeditionen Projekte, die nicht selten Wissenschaft und Sport verbanden.
Die Seidenstraße – 120 Kilometer pro Tag
Sein erstes großes Abenteuer: eine Radreise entlang der alten Handelsroute. Vier Monate Asien, 120 Kilometer pro Tag, mit Zelt und russischen Militärkarten. Handys waren noch selten, erste Online-Tagebücher gerade neu. „Wir waren eine der ersten Gruppen, die unterwegs einen Blog führten“, erinnert er sich. Für Sponsoren, für die Daheimgebliebenen – und als Zeugnis einer Zeit, in der Abenteuerreisen noch weniger planbar waren. Gefährlich? Ja. Aber im Rückblick vor allem prägend. „Es ist immer gut ausgegangen. Wir wurden nie überfallen und es gab keine Unfälle. Aber der Reiz war da: andere Kulturen, unruhige Gegenden, das völlige Herausfallen aus dem Alltag.“
Wüsten, Staffelläufe und historische Experimente
Nach der Seidenstraße folgten die Mongolei, Sibirien, Wüstenwanderungen. Mal auf dem Rad, mal zu Fuß. Mal allein, mal in Staffeln, die er mitorganisierte: Läuferinnen und Läufer, die Eis von den Alpen nach Rom trugen, inspiriert von antiken Überlieferungen. Oder historische Rekonstruktionen: in Filzhose und mit Lederschuhen über die Anden, um nachzuvollziehen, wie Auswanderer im 19. Jahrhundert die Gebirge überwanden. „Mit moderner Ausrüstung schaffst du 40 bis 50 Kilometer am Tag“, sagt er. „Mit den alten Sachen waren es 20.“ Eine Erfahrung, die Demut lehrt – und zeigt, dass viele Rekorde der Gegenwart gar nicht so einmalig sind, wenn man die Leistung der Menschen früher bedenkt.
Basteln am Limit
Heute kreist vieles um ein Ziel: die magische 6.000-Meter-Marke mit dem Fahrrad. 2010 wagte er mit zwei Mitstreitern den ersten Versuch am Ojos del Salado in Chile. Der höchste aktive Vulkan der Erde liegt am Rande der Atacama-Wüste in einer Gebirgskette, die von der chilenisch-argentinischen Grenze durchzogen wird. „Vor uns waren schon Radfahrer dort – manche trugen ihr Rad bis zum Gipfel, andere setzten auf Akkus. Doch alle machten dieselbe Erfahrung: Über 5.000 Metern lässt sich nur in Ausnahmefällen bergauf fahren. Klar könnte man schieben, aber der Reiz besteht ja im Fahren“, beschreibt Hülsemann die besondere Herausforderung.
Seitdem tüftelt er. In seiner Werkstatt in seinem Fachwerkhaus in Bornheim verlängert er Rahmen, verändert Übersetzungen, experimentiert mit Reifen. „Inzwischen fahre ich Steigungen von 60 Prozent – normalerweise ist bei 25 Schluss.“ Das Tüfteln und viele weitere Testfahrten auf unterschiedlichste Berge dieser Erde sollten sich auszahlen: Im Frühjahr dieses Jahres fuhr er auf 5.608 Meter.
Seine jüngste Tour führte ihn zurück zum Ojos des Salado. Diesmal jedoch in den Nordwesten Argentiniens. Vier Wochen unterwegs, zwei davon zur Akklimatisation auf 4.000 Metern. „Man lebt anders dort oben“, erzählt er. „Du brauchst eine gefühlte Ewigkeit, um das Zelt aufzubauen, weil du ständig pausieren musst. Selbst Wasser kochen ist eine körperlich anstrengende Aufgabe.“ Begleitet wurde er von zwei Freunden und einem Geländewagen. „Eigentlich wollten die nur ein bisschen wandern“, sagt er und lacht. Doch auch mit Unterstützung blieb es ein unmögliches Unterfangen. Am Ende musste er bei 5.608 Metern aufgeben. „Da war Schluss. Sand, Sturm, keine Spuren mehr. Aber das gehört dazu. Manchmal setzt die Natur die Grenze.“ Das Projekt lebt weiter. „Ich werde das noch einmal angehen. Jetzt kenne ich die Gegebenheiten vor Ort genau. Ich werde weiter tüfteln und einen neuen Versuch starten.“
Zwischen Risiko und Gelassenheit
Adrenalin-Kicks wie Bungee-Sprünge reizen den zweifachen Familienvater nicht. „Mir geht es nicht um Sekunden des Nervenkitzels. Es geht um lange geplante Expeditionen, um Ziele, die kaum einer anpackt.“ Dabei bleibt er erstaunlich gelassen. Ob Schneesturm, glühende Hitze oder Frost – er erzählt, als spräche er von einer Fahrradtour durch die Eifel.
Vielleicht liegt genau darin der Kern: dass Abenteuer für ihn kein Ausnahmezustand sind, sondern eine Haltung. Einer, der auslotet, was geht – im Labor und draußen in der Welt. Und wenn er irgendwann die 6.000-Meter-Marke auf dem Rad knackt, wird er wohl nur kurz nicken, bevor er die nächste Idee in Angriff nimmt.
Zur Person
Dr. Frank Hülsemann ist 53 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Mit seiner Familie lebt er in einem Fachwerkhaus in Bornheim, in dem auch seine hauseigene Werkstatt beheimatet ist. Er ist promovierter Chemiker und arbeitet seit 2000 am Institut für Biochemie der Deutschen Sporthochschule Köln in der Dopinganalytik. Sein Spezialgebiet ist die Isotopenverhältnis-Massenspektrometrie. Als Lehrbeauftragter unterrichtet er seit 2012 in den Themenfeldern Nahrungsergänzungsmittel und Doping. Frank Hülsemann ist seit seiner Jugend begeisterter und erfolgreicher Ausdauersportler. Später kam der Extremsport dazu. Er ist zu Fuß durch die Atacama-Wüste gewandert, hat drei Wochen von Flaschenpfand gelebt und ist mit dem Fahrrad auf den höchsten Vulkan der Welt gefahren. Wenn er nicht gerade auf einer Expedition oder im Labor ist, tüftelt er an eigenen Erfindungen: ein Daniel Düsentrieb im weißen Kittel.

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Die Vorbereitungen sind jedes Mal sehr aufwändig. Aber nur deswegen können die Projekte überhaupt funktionieren