Nr. 1/2023

„Der Sportjournalismus muss um seine Legitimität bangen“

Daniel Nölleke (44) ist seit knapp einem Jahr Juniorprofessor für Sportjournalismus und Öffentlichkeitsarbeit an der Deutschen Sporthochschule Köln. Früher war er selbst leidenschaftlicher Tennis- und Squash-Spieler, heute schaut er vor allem Menschen beim Sport zu. Denn Daniel Nölleke ist TV-Junkie, wenn es um Sport geht und hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit aktuellen Trends im Sportjournalismus. Er hat erforscht, wie sich Sportarten an die Medien anpassen, um mehr Präsenz zu erlangen oder warum ehemalige Sportler*innen so gerne als Expert*innen im Fernsehen eingesetzt werden. Aber auch abseits des Sports interessiert ihn die Rolle von Expert*innen. So hat er etwa untersucht, welche Erfahrungen Wissenschaftler*innen während der Coronapandemie im medialen Rampenlicht gemacht haben.

Angefangen hat alles mit einer Schülerzeitung, einem Apple IIe und mit vielen Stunden vor dem Fernseher. „Ich war lange Chefredakteur einer Schülerzeitung, habe als Kind sogar eine eigene private Zeitung gemacht und an Verwandte verteilt, damals an einem Apple IIe erstellt“, erzählt er schmunzelnd. (Der Apple IIe gehört zu den ersten Heimcomputern mit eingebauter Tastatur, Diskettenlaufwerk und klobigem Monitor; Anm. d. Red.). Während er an der Uni Münster Kommunikationswissenschaft, Politik und Geschichte studierte, arbeitete er als freier Mitarbeiter in einer Lokalredaktion im Sauerland. Und dann gab es diese besonderen Tage, „an denen ich morgens um neun den Fernseher eingeschaltet habe und bis abends durchgehend Sport geschaut habe“, sagt Daniel Nölleke. Interessant fand der selbst erklärte Sport-TV-Junkie von Anfang an die Rolle der Expert*innen im Sport. Bei der Übertragung eines Skisprungwettbewerbs wunderte er sich darüber, dass der TV-Experte nahezu jeden Sprung mit den Worten kommentierte: zu spät am Tisch. „Ich habe mich dann gefragt: Ist es wirklich so einfach? Kann das das ganze Geheimnis sein? Und braucht es wirklich einen Experten dafür, der am Ende doch immer nur die eine Erklärung hat, nämlich, dass der Springer entweder zu früh oder zu spät am Tisch war?“. Da habe es plötzlich klick gemacht: „Ich erkannte, dass ich durch mein Studium ein wissenschaftliches Instrumentarium an die Hand bekam, um genau so eine triviale Frage zu beantworten, die dann am Ende gar nicht mehr so trivial war.“

Ehemalige Sportler*innen als Expert*innen im TV

Besonders in den Fokus nahm Nölleke zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn ehemalige Sportler*innen, die als Expert*innen im Fernsehen auftreten. Seine Magisterarbeit an der Uni Münster schrieb er dazu, welche Rolle Ex-Sportler*innen als Expert*innen spielen und was die Sender damit bezwecken. Er führte Interviews mit Sportjournalisten und Redaktionsleitungen und untersuchte verschiedene Sportereignisse im Hinblick darauf, wie häufig Ex-Sportler*innen als Expert*innen auftreten und wozu sie sich äußern. Für einen Recherchebesuch kam er erstmalig an die Deutsche Sporthochschule Köln: „Das muss 2005 gewesen sein, da suchte ich in der Bib nach einer Diplomarbeit. Schon damals habe ich mir fest vorgenommen, mal an der Spoho zu arbeiten.“

Was er damals herausfand, besitzt heute immer noch Gültigkeit: TV-Sender holen ehemalige Sportler*innen nicht unbedingt aus einem inhaltlichen Bedarf heraus als Expert*innen an Bord oder weil diese eine überlegene Analysefähigkeit mitbringen. Vielmehr würden Dramaturgie und Authentizität für deren Einsatz sprechen. „Die Sender müssen gerade beim Livesport oft lange Sendestrecken füllen und Übertragungsrechte refinanzieren, das heißt, die Berichterstattung will aufgewertet und ausgeweitet werden. Dazu eignen sich Dialogformate ideal. Der Einsatz von Ex-Sportler*innen vermittelt dem Publikum zudem Glaubwürdigkeit. Wenn jemand, der diesen Sport selbst betrieben hat, einen Kommentar abgibt, hat das mehr Gewicht als wenn dies der Journalist tut.“ Authentizität sei auch heute noch der zentrale Aspekt, um Sportler*innen als TV-Expert*innen einzubinden. Nach seinem Lieblings-TV-Experten gefragt, muss Daniel Nölleke nicht lange zögern: „eindeutig Sandro Wagner“. Und das nicht nur, weil Wagner zwischen 2008 und 2010 bei seinem geliebten MSV Duisburg gespielt hat. „Ich bin ein großer Fan von seiner Art zu kommentieren: hoch analytisch, sehr kurzweilig, erfrischend unaufdringlich, aber durchaus auch mal klare Kante zeigend und mitunter übers Ziel hinausschießend. Das finde ich großartig.“

Was die Leaders Box mit Medialisierung im Sport zu tun hat

Die mediale Aufbereitung von Sport ist aber nicht nur für ihn als Zuschauer interessant, sondern auch für seine Forschung relevant. So beschäftigte er sich zum Beispiel schon wissenschaftlich mit der Medialisierung von Fußball und Rennrodeln, also mit der Frage, wie sich diese Sportarten und ihre Protagonist*innen verändern, damit sie mediale Präsenz erlangen oder für die Zuschauer*innen an den Bildschirmen noch attraktiver werden. „Bei TV-Übertragungen vom Rodeln, Skispringen oder Ski alpin kennt man mittlerweile die Leaders Box: Da steht dann die Person, die in dem Wettbewerb gerade führt, im Scheinwerferlicht und wird genauestens von der Kamera beobachtet, während sie dort auf die Konkurrenz wartet“, nennt Nölleke ein Beispiel für eine Form der Medialisierung im Sport.

In seiner aktuellen Forschung beschäftigt sich der Wissenschaftler mit dem Verhältnis zwischen traditionellen Sportmedien, Sportpublikum und sogenannten Owned Media, also den medialen Angeboten des Sports selbst (z.B. eigenes Vereins- oder Verbands-TV). Die Zusammenhänge und die Fragen, die ihn daran interessieren, erklärt er so: „Die Menschen informieren sich über Sport mittlerweile über sehr viele Kanäle. Da stellt sich die Frage, welche Legitimität der Sportjournalismus eigentlich noch hat. Vielleicht sind objektive Quellen im Sportjournalismus gar nicht so zwingend. Wollen Fans ihre Infos eher auf der Vereins- oder Verbandswebseite finden? Inwiefern muss sich der Sportjournalismus inhaltlich verändert? Welche technischen Innovationen bieten sich an, um gegenüber anderen Formaten überlegen zu sein? Und wie sehen Vereine und Verbände, die eigene Medieninhalte produzieren, ihre Verantwortung für die viel beschworene Krise im Sportjournalismus?“.

„Sportredaktionen können immer weniger eigenständig kreativ arbeiten“

Als Sportjournalismusexperte hat Daniel Nölleke einen guten Überblick über allgemeine Trends und Entwicklungen: Sportjournalist*innen und Redaktionen haben immer seltener Zugang zu exklusiven Informationen und Protagonist*innen und sind immer stärker vom guten Willen der Vereine oder Sportler*innen abhängig; Bild- und Übertragungsrechte liegen meist in der Hand weniger; einfache journalistische Texte werden automatisiert erstellt. „Die Sportredaktionen sind immer weniger in der Lage, eigenständig kreativ zu arbeiten. Das sehe ich als die zentrale Herausforderung des Sportjournalismus.“ Er prognostiziert daher, dass der Sportjournalismus versuchen werde, von der ergebniszentrierten und stark unterhaltenden Berichterstattung ein Stück weit abzurücken und die analytische Perspektive zu stärken, zum Beispiel, indem sportpolitische und soziale Themen mehr in den Fokus rücken, aber auch dadurch, dass Sportereignisse mithilfe von Daten analytisch tiefer durchdrungen werden.

Neben dem Sportjournalismus hat Nölleke die Wissenschaftskommunikation als ein anderes Forschungsfeld für sich entdeckt, also die Kommunikation wissenschaftlicher Arbeit und Erkenntnisse innerhalb der Wissenschaft und in die Öffentlichkeit. „Als Journalismusforscher fasziniert mich, dass Wissenschaft einerseits und Journalismus andererseits komplett konträren Gesetzmäßigkeiten folgen. Wissenschaftliches Wissen ist per se unsicher, fragil, vorläufig. Das haben wir gerade in der Coronapandemie immer wieder gemerkt. Journalismus orientiert sich hingegen an gesicherten Wahrheiten, an Fakten.“ Wie geht man mit diesem Dilemma um? Laut Nölleke habe der Journalismus eine eigene Funktion und folge eigenen Aufmerksamkeitslogiken. Das zeige sich zum Beispiel darin, dass der wissenschaftliche Prozess, also die Methoden und Praktiken, über die wissenschaftliche Ergebnisse zustande kommen, in journalistischen Texten und Beiträgen nur eine geringe Rolle spiele. Verkürzte Botschaften würden oft der Komplexität von Wissenschaft nicht gerecht: „Gerade bei Themen, die uns unmittelbar und stark emotional betreffen oder belasten, etwa die Gesundheit oder die Kindererziehung, sind wir meist auf der Suche nach hundertprozentigen Antworten oder eindeutigen Empfehlungen. Wissenschaft kann genau das häufig nicht liefern“, sagt Nölleke.

Wissenschaftskommunikation ganzheitlich betrachten und fördern

Dennoch habe etwa die Coronapandemie der Wissenschaftskommunikation Schwung verliehen, hat Nölleke herausgefunden. Am Anfang der Pandemie war er, damals noch am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Uni Wien, an einer Studie beteiligt, die kürzlich als wissenschaftliche Publikation erschienen ist. Die Arbeitsgruppe interviewte 24 Expert*innen österreichischer Forschungseinrichtungen (v.a. Virologie und Epidemiologie) und befragte sie zu ihrer öffentlichen Rolle während der Pandemie. Die Ergebnisse veröffentlichte die Arbeitsgruppe vorab in einem Report. „Die große mediale Resonanz zur Studie hat uns sehr gefreut, denn das ist das, was man als Wissenschaftler auch beabsichtigt, nämlich den öffentlichen Diskurs zu bereichern“, sagt Nölleke. Die Studienergebnisse zeigen, dass die Befragten in der Zusammenarbeit mit Medienvertreter*innen weitgehend positive Erfahrungen machten, sich allerdings auch Beleidigungen und Drohungen ausgesetzt sahen. Generell wünschten sich die Expert*innen mehr Angebote zur Wissenschaftskommunikation in der wissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung – eine Forderung, die auch Nölleke selbst schon lange äußert: „Wissenschaftskommunikation sollte viel stärker in der wissenschaftlichen Ausbildung verankert und letztlich auch honoriert werden.“ Er plädiert außerdem für eine ganzheitliche Perspektive: „Wissenschaftskommunikation wird häufig so verstanden, Forschungsergebnisse möglichst schnell und einfach an den Mann oder die Frau zu bringen. Meines Erachtens sollten aber auch Punkte berücksichtigt werden wie: Was machen Wissenschaftler*innen tagein tagaus? Wie kommen sie zu ihren Ergebnissen?“. Zur erfolgreichen Wissenschaftskommunikation gehöre zudem, dass Wissenschaftler*innen verstehen, worauf sie sich einlassen, wenn sie in die Öffentlichkeit treten, zum Beispiel nach welchen Regeln Medien funktionieren und Journalist*innen arbeiten oder auch welche Vorteile und Konsequenzen Medienpräsenz haben kann.

Sein Hobby zum Beruf gemacht – das klingt abgedroschen, klischeehaft und mitunter vorwurfsvoll, zum Beispiel, wenn von Sportjournalist*innen die Rede ist. Jun.-Prof. Daniel Nölleke kann daran nichts Verwerfliches finden, im Gegenteil: „Wenn jemand sein Hobby zum Beruf macht, finde ich das genial. Es gibt nichts Schöneres – ob im Sportjournalismus oder in der Wissenschaft – als Themen angehen zu dürfen, die uns im Alltag, in den Medien, in unserem gesellschaftlichen Umfeld begegnen.“

Text: Julia Neuburg

Kurzvita
  • Geboren 1978 in Duisburg, aufgewachsen in Arnsberg/Sauerland
  • Verheiratet, zwei Töchter (3 Jahre)
  • Studium Kommunikationswissenschaft, Politik und Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster
  • Studienabschluss 2005 mit Magisterarbeit zum Thema „Ehemalige Sportler als Experten in der Sportberichterstattung im Fernsehen“
  • wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster
  • 2009-2011: DFG-gefördertes Forschungsprojekt „Evidenzbearbeitung in der Wissenschaftsberichterstattung aktueller Massenmedien“
  • 2012: Dissertation zum Thema „Experten im Journalismus“
  • Februar 2017-März 2022: Universitätsassistent (Post-Doc) am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien
  • Seit April 2022 am Institut für Kommunikations- und Medienforschung, Juniorprofessur für „Sportjournalismus und Öffentlichkeitsarbeit“