Nr. 10/2017

"Der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Minderheiten ist ein Gradmesser für das Ausmaß praktizierter Inklusion"

Univ.-Prof. Dr. Volker Schürmann vom Institut für Pädagogik und Philosophie ist einer der wenigen Sportphilosophen in Deutschland. Sein Hauptinteresse gilt den Verflechtungen des Sports mit der gesamtgesellschaftlichen Realität. Zuletzt hat er in diesem Kontext einen Beitrag über „Bedingungen der Möglichkeiten von Inklusion“ im Sport veröffentlicht. 

Herr Schürmann, Sie befinden sich derzeit in einem Forschungssemester, woran arbeiten sie in dieser Zeit ohne Lehre und Universitätsalltag?

Volker Schürmann: Mein Projekt für dieses Semester ist ein Buch mit dem Titel „Grundlagen der Sportphilosophie“, so ein Basiswerk gibt es bisher nämlich noch nicht. Bevor ich in Köln war, habe ich in Leipzig gelehrt, dort eine Vorlesung mit diesem Titel gehalten und eine eigene Idee entwickelt, was Sportphilosophie überhaupt ist oder sein könnte. Wichtig ist mir dabei herauszustellen, was diese Idee anderen Kolleginnen und Kollegen wie Elk Franke, Gunnar Drexel, Barbara Ränsch-Trill oder Gunter Gebauer verdankt, aber auch einige Akzentsetzungen gegenüber ihnen zu entwickeln.

Worin liegt Ihr eigener Ansatz?

Ein zentraler Punkt ist der Versuch, ernst zu nehmen, dass der Sport rein institutionell eine Besonderheit aufweist. Es gibt keine Physikphilosophie und keine Soziologiephilosophie, Sportphilosophie ist hingegen an der Deutschen Sporthochschule in Köln und an einigen anderen sportwissenschaftlichen Instituten fest verankert. Das ist eine ganz merkwürdige Ausnahme. Beim Sport gibt es irgendeine bemerkenswerte Besonderheit, die der Philosophie innerhalb der Sportwissenschaft immer einen bestimmten Raum verschafft hat.

Haben sie eine Erklärung für dieses Phänomen?

Unbestritten ist, dass der Sport als solcher danach schreit, eine philosophische Dimension zu thematisieren. Dennoch lassen sich eigentlich alle Fragestellungen des Sports anderen Bereichen zuordnen, der Sportpsychologie, der Soziologie, der Trainingswissenschaft und so weiter. Mein Gedanke ist: Die Besonderheit muss etwas mit der Art und Weise zu tun haben, wie der Sport betrachtet wird. Als Philosoph weiß ich ja nicht besser, wie Trainingsprozesse oder pädagogische Prozesse funktionieren als die Fachdisziplinen, aber ich kann thematisieren, welche Voraussetzungen diese Disziplinen machen müssen, um so vorzugehen, wie sie es eben tun. Wer eine Didaktik vorlegt, wie man im Unterricht olympische Werte vermittelt, der hat sich schon dafür entschieden, dass es der Sport mit Werten zu tun hat und kein bloßes Vergnügen ist. Das ist ja nicht selbstverständlich.

Eine Besonderheit des Sports besteht darin, dass man ihn als eine Art Miniaturausgabe des richtigen Lebens sehen kann. Weil sich hier Phänomene beobachten lassen, die verallgemeinert werden können.

Sport ist in der Tat eine kleinere Version der großen gesellschaftlichen Welt, und genauso wird er ja oft behandelt. Seine Eigenweltlichkeit und die Frage, wie sich Phänomene des Sports ins Verhältnis zur Gesamtgesellschaft setzen lassen, sind fester Bestandteil der Gegenstandsdimension des Sports. Der Sport ist nicht loslösbar von der historisch-gesellschaftlichen Situation, und wenn man dann auch noch davon ausgeht, dass man etwas ableiten kann, ist man bei einer lange verfolgten Idee: Wenn man verstehen möchte, was in der Gesellschaft los ist, hat die Analyse des Sports eine Art seismographische, diagnostische Funktion. Dass man Grundprinzipien des gesellschaftlichen Miteinanders in spielerischer Weise im Sport vorführt, macht die Sportphilosophie so interessant.

Das zeigt sich unter anderem in Ihrem aktuellen Text „Bedingungen der Möglichkeit von Inklusion: Reflexive Sportwissenschaft an einem Beispiel“, in dem Sie kritisieren, dass die gesellschaftliche Debatte über das Thema auf Nebenkriegsschauplätzen geführt wird.

Aus meiner Sicht leidet die Diskussion darunter, dass nicht zwischen Maßstab und Maßnahmen unterschieden wird. Inklusion ist als Maßstab verbindlich und von der UN-Behindertenkonvention noch einmal verbindlich festgeschrieben. Aber daraus folgt nicht, dass Alle im gleichen Unterricht sitzen müssen. Ich ziehe hier gerne den Vergleich zur über Jahrzehnte geführten Koedukationsdebatte, in deren Mittelpunkt die Frage stand, ob Mädchen und Jungs im Sportunterricht getrennt werden sollten. Das Bemerkenswerte ist, dass Gegner sagen konnten: Im Sinne der Emanzipation von Mädchen ist es besser, getrennt zu unterrichten. Und dass die Befürworter gute Argumente dafür haben, dass es – ebenfalls im Sinne der Emanzipation – richtig ist, einen gemeinsamen Unterricht anzubieten. Hier zeigt sich, dass man aus dem Maßstab der Emanzipation nicht ableiten kann, was die einzig möglichen Maßnahmen sind. Der Maßstab gebietet: Es gibt eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, und das darf nicht sein. Der Weg zur Überwindung dieses Zustands ist aber durch die UN nicht vorgegeben.

Was konkret läuft schlecht bei der Umsetzung inklusiver Konzepte?

Der Grundsatz der Inklusion ist allerspätestens durch die Behindertenkonvention der Vereinten Nationen unstrittig. Die Frage, was aus diesem Grundsatz folgt, ist jedoch hoch komplex und lässt sich sehr kontrovers diskutieren. Auf entscheidenden Ebenen unserer Gesellschaft heißt es jetzt: Wir haben die Behindertenkonvention verabschiedet, deshalb(!) sollen alle zusammen in eine Schule gehen. Das scheint mir falsch. Übrigens auch umgekehrt. Hinter der Kritik an dieser Politik kann sich ja auch Zynismus verbergen nach dem Motto, dass doch alles prima sei, wenn wir Behinderte in Förderschulen parken, weil die eigenen Kinder dann vermeintlich schneller lernen. Grundsätzlich ist der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Minderheiten ein Gradmesser für das Ausmaß praktizierter Inklusion.

Vermissen Sie an dieser Stelle eine stärkere Einbeziehung der Wissenschaft in die gesellschaftlichen Diskurse?

Es ist schon so, dass das, was mal Freiheit der Wissenschaft hieß, eine bestimmte Distanz gegenüber dem Geschehen also, zunehmend abgebaut wird. Brutal gesagt: Es sind Rezepte gefragt. Wir sollen Ergebnisse liefern, die man am besten morgen irgendwo anwenden kann. Aber das widerspricht dem Grundverständnis von Wissenschaft, das widerspricht der Physik genauso wie der Philosophie. Wissenschaft ist keine Auftragsarbeit, doch leider werden wir immer mehr zu Produzenten von Auftragsarbeiten.

Interview: Daniel Theweleit