Nr. 4/2019

Die richtigen Entscheidungen treffen: ein Interventionsprogramm für Volleyball-Schiedsrichter*innen

Wenn sich auf engstem Raum zwölf Spieler*innen tummeln und regelmäßig Bälle mit bis zu 130 km/h über das Netz fliegen, ist es eine Herausforderung, als Schiedsrichter*in richtige Entscheidungen zu treffen. Eigentlich kann man nur verlieren, denn das, was die Zuschauer*innen, Spieler*innen und Fans erwarten, Unfehlbarkeit,  kann ein Mensch nicht leisten. Trotzdem eine gute Leistung abzuliefern, erfordert Know-how, ein gutes Urteilsvermögen und ein sicheres Auftreten. All das sind Eigenschaften, die man unter Druck schwieriger abrufen kann. Genau mit diesem Phänomen beschäftigt sich ein Forschungsprojekt von Jun.-Prof. Stefanie Hüttermann und Dr. Benjamin Noël.

Jun.-Prof. Stefanie Hüttermann und ihr Team der Abteilung Kognitions- und Sportspielforschung wollen in einer umfangreichen Studie ermitteln, welche Faktoren Stress- und Angstreaktionen bei Volleyball-Schiedsrichter*innen fördern und somit die Schiedsrichter*innenleistung negativ beeinflussen. Gleichzeitig wollen sie herausfinden, wie man diesen Einflüssen gezielt entgegenwirken könnte. So soll im Rahmen der Studie ein Interventionsprogramm entwickelt und getestet werden, das Stress reduzieren und die Angst vor Fehlentscheidungen langfristig senken könnte. „Wir wollen erstmal herausfinden, ob es Stressfaktoren und Ängste bei den Schiedsrichtern gibt und wenn ja, welche das sind. Im zweiten Schritt, und das ist eigentliche das viel Wichtigere, wollen wir mit den Schiedsrichtern genau an diesen Sachen arbeiten und ermitteln, wie man mit den Einflüssen umgehen könnte, um das Stresslevel zu reduzieren. Wir wollen den Schiedsrichtern Möglichkeiten mit auf den Weg geben, um in Zukunft besser mit stressigen Situationen umgehen zu können“, so Hüttermann.

Im Laufe des Projekts sollen 40 Schiedsrichter*innen, die regelmäßig bei Volleyball-Bundesligaspielen eingesetzt werden, bei drei unterschiedlichen Turnierformen befragt und umfassend getestet werden. Methodisch betritt das Team um Jun.-Prof. Hüttermann damit Neuland, denn das Stress- und Angstniveau der Schiedsrichter*innen soll nicht nur subjektiv über Fragebögen und Kurzinterviews im Anschluss an die Spiele analysiert werden, sondern zusätzlich durch objektive Messinstrumente überprüft werden. „Stress ist ja häufig ein subjektives Empfinden. Wenn man zwei Schiedsrichter dieselbe Situation bewerten lässt, löst das bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger Stress aus“, erläutert Hüttermann. Mit ihrem Forschungsdesign können die Forscher*innen diese mögliche Diskrepanz zwischen subjektivem Empfinden und objektivem Stresslevel abbilden. Zu den objektiven Instrumenten zählen zum Beispiel die Messung der Herzratenvariabilität über EKG-Elektroden, welche die Schiedsrichter*innen während des Spiels tragen.

Um zu testen, ob ein individuelles psychologisches Coaching-Programm das Potenzial hat, die Leistung der Schiedsrichter*innen unter Druck zu steigern und gleichzeitig das subjektiv empfundene Stressempfinden zu senken, wurden die rund 40 Probandinnen und Probanden der Studie in verschiedene Gruppen aufgeteilt. Die Interventionsgruppe durchläuft vor der zweiten Testung das umfangreiche, individuell gestaltete psychologische Coaching von ausgebildeten Psychologen. „Das Coaching wird von unserem Projektpartner an der Uni Münster durchgeführt. Dort arbeiten zwei Psychologen im Eins-zu-Eins-Gespräch und in Gruppenworkshops mit den Schiedsrichtern, reflektieren über die Videoaufzeichnungen einzelne Situationen und prüfen, ob es einen Zusammenhang zu den objektiv von uns gemessenen Parametern gibt“, erklärt Hüttermann.

Mit Hilfe der Studienerkenntnisse möchten die Wissenschaftler*innen konkrete Maßnahmen zum Umgang mit Stress- und Angstsituationen erarbeiten, die anschließend nicht nur in der Volleyball-Praxis Anwendung finden sollen, sondern im Optimalfall auch auf andere Sportarten übertragbar sind. Auf Schiedsrichterebene ist das Thema Stressmanagement in der Literatur bisher unterrepräsentiert. Der Fokus lag bisher auf Studien aus der Sportart Fußball oder Basketball. Die wenigen Studien, die es aus dem Bereich Volleyball gibt, sind alt und nicht auf die heutigen sehr viel professionelleren Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel regelmäßige Live-Übertragungen, deutlich mehr Zuschauer*innen und in der Öffentlichkeit präsentere Spieler*innen, angepasst.

Bislang haben die Forscher*innen ihre Testung mit 16 Schiedsrichter*innen durchgeführt. „Aktuell laufen die Interventionen. Das heißt, gerade wird mit den Schiedsrichtern gearbeitet. Erst danach können wir schauen, ob die Interventionen zu Verbesserungen geführt haben“, so Hüttermann. Laut Plan läuft das vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) geförderte Projekt noch bis Ende 2020. Trotz einiger Hürden ist das Team, laut Hüttermann, im Zeitplan: „Das Projekt ist extrem zeitaufwändig, weil wir unfassbar viele Daten analysieren müssen. Außerdem ist das Organisatorische, also dass die Schiedsrichter wirklich in den Paarungen dort zusammen pfeifen, wo wir sie brauchen, sehr aufwändig. Hinzu kommt die Herausforderung, die Schiedsrichter davon zu überzeugen, dass sie mitmachen. Ohne die Unterstützung des Bundesschiedsrichterwarts Dr. André Jungen wäre die Durchführbarkeit des Projekts nur schwer möglich.“

Bei ihrem Vorhaben werden Hüttermann und ihr Team durch das Institut für Sportwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, hier vor allem durch Prof. Bernd Strauß, und von anderen prominenten Partnern unterstützt. Neben dem BISp sind auch der Deutsche Volleyball-Verband (DVV) und die Volleyball-Bundesliga (VBL) in das Projekt der Deutschen Sporthochschule Köln eingebunden.

Durch diese Zusammenarbeit aus Wissenschaft und Praxis, so hofft Hüttermann, soll ein optimaler Wissenstransfer entstehen. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, in Zusammenarbeit mit dem DVV einen Verhaltens- und Workshop-Plan zu erstellen, der die Entscheidungskompetenz und das Stressmanagement von Volleyball-Schiedsrichter*innen, aber auch Schiedsrichter*innen aus anderen Sportarten, wissenschaftlich fundiert unterstützt. Langfristig sollen die Erkenntnisse auch über den Sport hinaus einen Mehrwert bieten, um gezielte Interventionsprogramme zu entwickeln. „Ich glaube, ein Interventionsprogramm, bei dem man sich bewusst macht, wie man auf andere Leute reagiert oder wie die eigene Mimik und Gestik auf Mitmenschen wirkt, könnte auch für andere Arbeitsbereiche, in denen man mit Stresssituationen konfrontiert ist, sinnvoll sein. Es ist eine große Chance, wenn man weiß, wie man seinen Körper regulieren kann, wie man runter fährt und wie man sich besser ausdrücken kann, sodass der andere vielleicht auch ruhiger wird und es zu einem Miteinander statt einem Gegeneinander kommt“, sagt Hüttermann.

Text: Marilena Werth