Nr. 4/2020

„Liebe Kollegen, liebe Babett“

Ein Gespräch mit Dr. Babett Lobinger vom Psychologischen Institut über Mehrkämpfer*innen in der Wissenschaft, die Notwendigkeit der Sportpsychologie im Leistungssport – und Frauen in der Männerwelt des Fußballs.

Wie haben Sie zu Ihrem Forschungsschwerpunkt gefunden?

Ich war schon früh im Leistungssport, mit 17 Jahren im C-Kader mit Perspektive Jugend-Europameisterschaften. Meine Disziplinen waren 400-Meter-Hürden und Siebenkampf. Eine Verletzung verhinderte dann die weitere Laufbahn. Also habe ich erstmal Psychologie in Bonn zu Ende studiert. Zu dem Zeitpunkt wurde dort Sport als Magisterstudiengang Alterssport etabliert und so der alte Lehramtsstudiengang Sport abgelöst. 1998 bekam ich die Stelle an der Sporthochschule, allerdings unter der Bedingung, eine neue Dissertation, natürlich im Bereich der Sportwissenschaften, zu schreiben. Was mich am meisten interessierte, schon während der Diplomarbeit, war die Gerontologie. Also schrieb ich über „Bewegungssicherheit von Frauen im Alter“. Als eine der ersten nahm ich die Sturzgefährdung unter die Lupe. Mein Ansatz war unüblich, nämlich nicht aus dem defizitären Blickwinkel. Meine Frage war, wie alte Menschen selbst ihre Fähigkeiten und Einschränkungen und die Anforderungen der Umwelt balancieren, um Bewegungssicherheit zu gewinnen.

Wie ging es weiter?

Zurück zum Leistungssport. Ich komme aus einer sportlichen Familie, mein Bruder (Tim Lobinger, Anm. d. Red.) war Weltklasse-Stabhochspringer. Mit ihm zusammen haben wir Projekte ins Leben gerufen, und konnten Mittel des Bundesinstituts (BISp – Bundesinstitut für Sportwissenschaft, Anm. d. Red.) anwerben. Damals begann ich, mich für die Psychologie im Leistungssport einzusetzen. Die USA sind mit 46 Sportpsycholog*innen zu den Olympischen Spielen 2000 angereist – und wir hatten keinen einzigen. Es fehlte das offene Bekenntnis zur Notwendigkeit. Athlet*innen hatten offiziell keinen Bedarf an psychologischer Betreuung. Als Jürgen Klinsmann 2004 Fußballbundestrainer wurde, brachte er aus den USA diese Selbstverständlichkeit mit. Das Bundesinstitut und der DOSB (Deutscher Olympischer Sportbund, Anm. d. Red.) haben viel Geld in die Hand genommen, um die Sportpsychologie in Deutschland anzuschieben. Von der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie in Deutschland, deren Vizepräsidentin für Leistungssport ich derzeit bin, werden Fortbildungen für Sportwissenschaftler*innen und Psycholog*innen angeboten. Wir arbeiten originär interdisziplinär, in einer gemeinsamen postgraduellen Ausbildung versuchen wir, für das Thema zu begeistern.

In meiner wissenschaftlichen Arbeit treibt mich ein Motto an: "Inspired by performance and driven by science". Forschung finde ich immer dann spannend, wenn wir ein Phänomen aus der Praxis betrachten ­– wie zum Beispiel die Stürze im Alter oder die Regelveränderungen im Stabhochsprung ­ – und daran die zugrundeliegenden Mechanismen untersuchen. Unser Projekt YIPS, in dem es um Bewegungsstörungen beim Golfsport geht, passt auch gut dazu. In der Praxis ließ sich beobachten, wie Golfer im Wettkampf versagten, weil sie im entscheidenden Moment eine unkontrollierte Bewegung machten. Unsere wissenschaftliche Fragestellung war: Liegen hier neurologische, psychologische oder motorische Ursachen zugrunde?

Ihre Arbeit wurde ja dann noch um einen weiteren Schwerpunkt ergänzt …

Genau. Seit 2006 bin ich Stammdozentin im Fußball-Lehrer-Lehrgang an der Akademie des Deutschen Fußball-Bundes. Ich bilde die Fußball-Lehrer*innen in Psychologie aus. Das empfinde ich als großes Privileg. Als relativ junge Frau kam ich in eine Männerwelt, und ich bin dankbar dafür, dass mir das zugetraut wurde. Bis heute beginnen die Mails immer mit "Liebe Kollegen, liebe Babett". Es ist eine Herausforderung, den Expert*innen aus der Sportpraxis sportpsychologisches Handwerkszeug zu vermitteln, egal ob im Nachwuchsleistungszentrum oder in der Bundesliga. Dadurch habe ich mich intensiv mit Angewandter Sportpsychologie beschäftigt. Vor allem in den Nachwuchsleistungszentren haben wir die sportpsychologische Unterstützung hochgefahren. Beim DFB (Deutscher Fußball-Bund, Anm. d. Red.) und bei der DFL (Deutsche Fußball Liga, Anm. d. Red.) erlebe ich eine große Offenheit dem Thema gegenüber. Die Erkenntnis machte sich breit, dass der Druck auf die jungen Spieler*innen zu hoch war und man mehr Verantwortung übernehmen musste. Manchmal braucht es schmerzhafte Erfahrungen bis etwas passiert. Erst wenn etwas schiefläuft, wird die Notwendigkeit für Sportpsychologie eingesehen. Es ist immer noch nicht transparent, was die Sportpsychologie leisten kann, auch wenn es besser geworden ist.

Ein großer Erfolg unserer Arbeit war, dass seit 2018 die Sportpsychologie Bestandteil der Lizenzierung aller 57 Nachwuchsleistungszentren und der Vereine der Ersten und Zweiten Bundesliga wurde. Die Erstligisten müssen eine ganze Stelle für einen Sportpsychologen einrichten, die Zweitligisten eine halbe. Auch in den U-Nationalmannschaften arbeiten jetzt Psycholog*innen. In den Frauen-Teams läuft dieser Prozess gerade an. An der Spoho haben wir das Privileg, dass sehr viele Entscheidungsträger*innen im deutschen Leistungssport hier studiert haben. Sie haben gelernt, wie wichtig hohe Qualitätsstandards in der Praxis sind. Das hilft uns jetzt.

Ihr Forschungsspektrum geht vom Alterssport bis zum Leistungssport. Zwei Gebiete, die nicht viel gemeinsam haben. Wie kommt es dazu?

Das war nicht geplant, und das habe ich lange als Handicap aufgefasst. Üblich wäre gewesen, sich auf ein Thema zu konzentrieren, darüber zu promovieren und schnell die Habilitation hinterherzuschieben. Inzwischen habe ich meinen Frieden damit gemacht und erkannt, dass ich einfach breit interessiert bin. Als ich mich mit 17 für 400-Meter-Hürden entschieden habe, habe ich mich lange gefragt, ob der Siebenkampf nicht die bessere Alternative gewesen wäre. Dann habe ich zwei Studiengänge absolviert. Und genauso ist meine Forschung breit gefächert, was vielleicht zu Lasten einer stringenten Karriere geht. Dafür schaffe ich es, theoretische Grundlagen in die Praxis zu bringen. Das sehe ich heute als Stärke.

Müssen Sie sich dafür rechtfertigen?

Die Haltung publish or perish (dt.: Veröffentliche oder geh unter, Anm. d. Red.) ist weit verbreitet. Ich finde, wenn wir in der Wissenschaft mehr schreiben als wir lesen und denken, dann erreichen wir eine Fließbandpublikation. Das System belohnt, wenn jemand in kurzer Zeit viel zu einem engen Fachgebiet veröffentlicht. Die Mehrkämpfer*innen in der Wissenschaft haben dann das Nachsehen. Auch der Aufwand, den die Lehre bedeutet, wird nicht immer gesehen. Hier an der Sporthochschule hat sich in dem Bereich viel getan, weil auch Jens Kleinert (Prorektor für Studium, Lehre und Qualitätsmanagement, Anm. d. Red.) eine andere Einstellung dazu hat und sich sehr engagiert. Ich finde toll, dass unsere Lehrpreise auf der Homepage vorgestellt werden. Da sieht man auch mal, wie viel Arbeit dahintersteckt. Gerade jetzt, in Corona-Zeiten, ist eine gute Lehre so wichtig. Wenn wir es schaffen, dass unsere Studierenden kein Semester verlieren, können wir verdammt stolz sein. Unser Mittelbau ist spitze. Als die Pandemie im März begann, haben alle sofort die Ärmel hochgekrempelt und vielfach Urlaub abgesagt, um den hohen Anspruch zu halten. Wir sind vielleicht nicht so sichtbar wie die Flaggschiffe, unsere Professor*innen, aber die Konzepte, die wir hier in Sitzungen entwickeln, die verschiedenen Disziplinen, die wir zusammenbringen, die Forschung, die wir vernetzen ­– da zeigt sich unsere Stärke.

Liegt hier auch die Stärke dieser Hochschule?

Ich erlebe hier einen einzigartigen Sportsgeist, der die Forschenden beflügelt. Wir sind Teamplayer, weil wir die Stärke des Einzelnen erkennen und gemeinsam besser werden können. Das ist auch mein Selbstverständnis in der Lehre. Ich sage den Studis gerne vor einer Prüfung: Ich suche nicht nach Ihren Schwächen, sondern ich erwarte ein Expertengespräch. Zeigen Sie, was Sie gelernt und vorbereitet haben. Time to shine, darum soll es gehen. Ich möchte die Leute ermuntern, etwas auf die Beine zu stellen. Es hat mich oft tief beeindruckt, was die Studierenden leisten, wie sie sich engagieren. Im Seminar „Managing Diversity“ im Modul Sozialkompetenz hat beispielsweise ein Projekt dazu geführt, dass es ein Sportangebot für Geflüchtete gibt. Wir dürfen Existenzgründungen erleben. Master-Studierende entwerfen Websites, e-Angebote und vieles mehr. Ich sehe mich lieber als Coach, der anregt und unterstützt, denn als Pauker mit Rotstift.

Mit 13 Semesterwochenstunden, verteilt auf sieben Veranstaltungen, sind Sie sehr aktiv in der Lehre. Was bringen Sie den Studierenden bei?

Das, was gute Trainer*innen machen: Ich möchte die Studierenden für die Psychologie begeistern. Bestimmt ist es dafür eine gute Voraussetzung, dass ich selber in mein Fach verliebt bin. In der angewandten Forschung müssen wir solide arbeiten, evidenzbasiert und theoriegeleitet. Die Studierenden müssen die Literatur kennen und mit ihr umgehen können. Und wenn ich sie darüber hinaus für die Sportpsychologie als Disziplin begeistern kann, habe ich einen guten Job gemacht. Dass wir 2016 den Master in Sportpsychologie (der englischsprachige Studiengang M.Sc. Psychology in Sport and Exercise, Anm. d. Red.) eingerichtet haben, kommt dem natürlich zugute. Damit holen wir Psycholog*innen aus dem In- und Ausland an die Sporthochschule, der Anteil von Frauen und Männern ist dabei ausgeglichen. Valeria Eckardt, beste Studentin aus der ersten Kohorte, hat bei mir im Seminar ein Referat über Eltern als Karrierebegleiter gehalten. Jetzt promoviert sie zu dem Thema und hat dafür ein hochschulinternes Graduiertenstipendium erhalten. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, was Studierende leisten können, wenn sie sich ihr Thema selber wählen und ihre Forschungsnische finden. (siehe auch https://blog.dshs-koeln.de/category/forschung/valerias-blog/, Anm. d. Red.)

Wie unterscheiden sich eigentlich Mentaltrainer*innen und Sportpsycholog*innen in ihrer Arbeitsweise?

Der erste Unterschied ist, dass der Begriff Mentaltrainer*in nicht geschützt ist. Jeder kann sich so nennen. Psycholog*in hingegen ist nur, wer im Hauptfach fünf Jahre Psychologie an einer anerkannten Universität studiert hat. Welche Qualifikation jemand hat, ist nicht immer transparent. Nach Auffassung des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen sind alle Bindestrich-Psycholog*innen auch Psycholog*innen, also zum Beispiel der Wirtschaftspsychologe oder die Schulpsychologin. Aber mit der Diversifizierung der Studiengänge sind nicht immer die Credits für ein einschlägiges Studium erfüllt. Wir haben es vermehrt mit Wirtschafts- oder Sportpsychologen zu tun, die nach dem EuroPsy-Standard die Kriterien für die Berufsbezeichnung „Psychologe/Psychologin“ – früher Diplom –  nicht erfüllen. In solchen Fällen müsste oder könnte auf Unterlassung geklagt werden, sollte jemand den Titel „Psychologe/Psychologin“ trotzdem führen. Bei uns heißen die Sportwissenschaftler*innen mit der Zusatzqualifikation sportpsychologische Expert*innen. Wer sich Mentaltrainer*in oder vor allem Motivationstrainer*in nennt, wendet oftmals eine bestimmte Technik an; dahinter steht oftmals keine universitäre Ausbildung. Viele unseriöse Anbieter erkennt man daran, dass sie mit sich selber werben, also ihre eigene Person in den Vordergrund stellen. Für Psycholog*innen war Werbung lange Zeit verboten. Unseriös ist auch, Erfolg zu versprechen. Denn das kann man nicht. Niemand kann versprechen: „Ich mach dich zur Nummer eins“. Noch ein Unterschied ist, dass Psycholog*innen an die Schweigepflicht gebunden sind. Das ist gesetzlich verankert.

Inhaltlich folge ich meiner Kollegin Monika Liesenfeld, Psychologin am Olympiastützpunkt in Berlin. Sie unterscheidet auch noch zwischen „auf der Bühne und hinter der Bühne“. Wenn ein Athlet Konzentrationsschwierigkeiten hat oder regelmäßig im Wettkampf versagt, obwohl er Trainingsweltmeister ist, dann kann der Mentaltrainer mit bestimmten Maßnahmen helfen. Er arbeitet dann mit dem Sportler zum Beispiel an seiner Zielsetzung. Ein Psychologe schaut eher auch hinter die Bühne und fragt, woher kommt denn das Problem? Geht es hier vielleicht um tieferliegende Themen wie Anerkennung oder gibt es prägende Erfahrungen? Wir sind unseren Klient*innen und ihrem Wohl verpflichtet. Das kann auch mal bedeuten, Athlet*innen aus dem System zu nehmen, anstatt dafür zu sorgen, dass sie bestmöglich funktionieren. In einem System, das wenig Schwächen duldet, ist das umso wichtiger. Ich sehe uns als Korrektiv dieses Systems.

Sie sind seit 25 Jahren Sportwissenschaftlerin. Welche Entwicklungen nehmen Sie wahr? Was hat sich in dieser Zeit für Studierende und Lehrende verändert?

Die ganze Hochschullandschaft hat sich verändert. Es gibt viel mehr Studiengänge, was ich einerseits für eine große Chance halte. Andererseits fehlt es vielleicht manchmal an Unterstützung für die Abiturienten, um sich zu orientieren. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob eine so frühe Spezialisierung, eine Festlegung auf einen Schwerpunkt im zweiten Semester, wirklich sinnvoll ist. Möglicherweise ist durch die Fokussierung auf Kompetenzen die grundsolide, humanistische Bildung etwas verloren gegangen. Bevor jemand etwas präsentiert, sollte er ein Experte auf diesem Gebiet sein. Haben wir nicht zu viel „Binge-Learning“, zu viel „Junk-Wissen“? Ich stelle auch unser Konzept auf den Prüfstand und frage mich, wann ich eine gute Dozentin bin. Vielleicht brauchen wir mehr Formate, in denen wir mehr miteinander diskutieren – geht das in Kursen mit 30 Leuten? Muss ich das, was die Studis lernen, immer kontrollieren oder betrachte ich Bildung nicht eher als Angebot? Die Wissenschaft hat sich vom Elfenbeinturm zur Fabrik entwickelt. Die Anwendung entfernt sich von der Forschung. Auf meine Disziplin bezogen heißt das: Wenn wir anfangen, die Psychologie zu verwässern, wird sie zur Alltagspsychologie. Psychologie ist eine Wissenschaft. Und das, was wir weitergeben, muss gut begründet und theoretisch fundiert sein. Prozesse brauchen Zeit, und gerade unsere Arbeit ist nicht immer sichtbar; den Impact merkt man oft erst viel später. Eine „Fastfood-Wissenschaft“ tut niemandem gut.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Welche Ziele möchten Sie noch erreichen?

Für die sportpsychologische Betreuung in der Praxis wünsche ich mir eine Qualitätssicherung und eine Unterstützung der Kolleg*innen vor Ort. Eine Testothek oder ein Testzentrum zu haben, das wäre genau das richtige Tool. Ich wünsche mir mehr Transparenz sportpsychologischer Dienstleistung nach außen. Das Buch, das ich mit Kolleg*innen geschrieben habe, heißt "Sportpsychologie für den Leistungssport", mit Betonung auf „für“. Übrigens auch „Deutsche Sporthochschule Köln – seit 1947 ... Wissenschaft für den Sport“. Da steht der Dienstleistungsgedanke im Vordergrund. Das muss sichtbarer werden, zum Beispiel: Was bieten wir für Eltern, für Trainer*innen, für die Kolleg*innen in der Praxis? Ich wünsche mir die Erschließung neuer Bereiche, wie zum Beispiel schulpsychologische Angebote, das heißt Sportpsychologie für die Schule. Wir sind oft etwas pragmatischer als die Kolleg*innen aus der Mutterdisziplin, weil wir die Anwendung auch leben. Viele Techniken, die sich im Leistungssport bewährt haben – beispielsweise Konzentrations- und Entspannungsverfahren – können für Schüler*innen sehr hilfreich sein. Die Leistungssituation ist vergleichbar, ob ich gleich eine Klausur schreibe oder kurz vor dem 100-Meter-Sprint stehe. Man kann lernen, mit Nervosität umzugehen und sich auf eine solche Situation vorbereiten.

Interview: Anna Papathanasiou