Nr. 4/2021

Herz über Kopf

Entscheidungen unter Zeitdruck treffen, konzentriert bleiben, wenn das Spiel hart wird, Ablenkungen ausblenden, unter Druck einen kühlen Kopf bewahren – all diese Fähigkeiten müssen Profi-Sportlerinnen und -Sportler beherrschen, um erfolgreich zu sein. Die Stichwörter: Selbstregulierung und emotionale Intelligenz. Welche Rolle in diesem Zusammenhang die Aktivität des Vagusnervs – der die Herzfunktion reguliert – spielt, ist das zentrale Forschungsfeld von Privatdozent Dr. Dr. Sylvain Laborde. Der Sportwissenschaftler und Psychologe ist Mitarbeiter der Abteilung Leistungspsychologie und hat vor kurzem seine Antrittsvorlesung im Rahmen seines Habilitationsverfahren gehalten.

„Man überlebt kein Finale in Wembley ohne heißes Herz und kühlen Kopf.“ Das sagte Italiens Innenverteidiger Giorgio Chiellini vor dem EM-Finale gegen England. Was es bedeutet, keinen kühlen Kopf zu bewahren hat Zinédine Zidane beim WM-Finale 2006 gegen Italien gezeigt: Er hat seinem Gegenspieler Marco Materazzi einen Kopfstoß verpasst und wurde des Platzes verwiesen. Frankreich verlor das anschließende Elfmeterschießen. „Materazzi hat das sehr klug gemacht. Er hat Zidane so lange provoziert, bis dem irgendwann der Kragen geplatzt ist. Er wollte nichts anderes, als dass sich Zidane zu einer unüberlegten Handlung hinreißen lässt und es hat geklappt“, sagt Sporthochschul-Wissenschaftler PD Dr. Dr. Sylvain Laborde. Der Ausraster von Zidane war Grundlage für die Dissertation von Sylvain Laborde, für die der 37-Jährige von der Universität Caen in der Normandie an die Deutsche Sporthochschule nach Köln gekommen ist. Der Umzug liegt mittlerweile zwölfeinhalb Jahre zurück und heute ist der gebürtige Franzose nicht nur promoviert sondern auch habilitiert.

Sein Forschungsschwerpunkt: Spitzenleistung unter Druck. „Mein Interesse gilt vor allem der vagalen Aktivität als Indikator der Selbstregulierung und der emotionalen Intelligenz als individuelle Differenz der adaptiven Persönlichkeit“, erklärt Laborde und erläutert: „Der Vagusnerv verbindet unser Herz mit unserem Gehirn. Genauer gesagt, mit der Region, in der Entscheidungen getroffen werden und in der die Konzentration gesteuert wird, dem sogenannten präfrontalen Kortex. Ausschlaggebend dabei ist die Aktivität des Vagusnervs: Je höher das Aktivitätsniveau, desto besser sind meine Entscheidungen und meine Konzentrationsfähigkeit. Emotionale Intelligenz beschreibt das Erkennen, Vermitteln und Regulieren der eigenen Emotionen sowie der Emotionen anderer. Beides ist entscheidend für den Ausgang eines sportlichen Wettkampfes.“

Die vagale Aktivität

Die vagale Aktivität

Seine eigene vagale Aktivität überprüft der frisch gebackene „Professor“ jeden Morgen direkt nach dem Aufstehen - um 5 Uhr im Sommer und 6 Uhr im Winter. Dann geht er einen Kilometer joggen, bei Wind und Wetter. „Ich bringe mein Herz in Schwung, dann bin ich fit für den Tag“, sagt Laborde. Aufschluss über die Aktivität des Vagusnerves liefert die Herzratenvariabilität – die zeitlichen Variationen zwischen den Herzschlägen. „Wenn wir müde oder gestresst sind, sinkt die Herzratenvariabilität. Die Konzentration lässt dann nach und die Selbstregulierung fällt schwerer“, sagt der Wissenschaftler. In seinen Forschungsprojekten untersucht er, inwiefern spezielle Atemtechniken die vagale Aktivität beeinflussen. „Unser Hauptfokus liegt auf langsamen Atemtechniken. Wenn wir spontan atmen, haben wir 12 bis 20 Atemzyklen pro Minute. Für unsere langsamen Atemtechniken reduzieren wir auf sechs Zyklen pro Minute, also um mehr als die Hälfte. Wir signalisieren damit unserem Gehirn: Halt, stopp, beruhige dich! Gleichzeitig steigern wir die vagale Aktivität. Das funktioniert übrigens auch auf dem Spielfeld: Einfach mal tief durchatmen und den Kopf abkühlen.“

Wissenschaft auf der Bühne

Wissenschaft auf der Bühne

Die Forschungserkenntnisse von Sylvain Laborde fließen direkt in seine praktische Tätigkeit als Mentaltrainer ein. „Für mich ist das die perfekte Symbiose. Ich liebe die Forschung und die Arbeit mit Menschen“, sagt der gebürtige Franzose, der neben seiner Muttersprache deutsch, englisch, spanisch und italienisch fließend beherrscht. Neben Sportlerinnen und Sportlern zählen vor allem Musikerinnen und Musiker zu seinem Kundenstamm. „Wir haben festgestellt, dass professionelle Musiker*innen und Sportler*innen ähnliche Drucksituationen bewältigen müssen und sich die angewandten Stressbewältigungstechniken sehr gut adaptieren lassen. Mentales Training ist keine Magie, es ist Training. Unsere Aufgabe ist es, Routinen zu entwickeln und in den Alltag zu integrieren, die sich dann in Wettkampf- oder anderen Drucksituationen abrufen lassen.“ Laborde ist selbst Musiker. Unter dem Namen Enakil veröffentlicht er überwiegend französische Musik – er spielt Klavier und singt, gemeinsam mit einem weiteren weiblichen Gesangspart und anderen Musiker*innen, die ebenfalls im Psychologischen Institut arbeiten. „Wir machen vor allem motivierende Musik, die man auch beim Sport hören kann. Unsere Proben finden hier an der Sporthochschule im Musischen Forum statt. Das ist super. Ich liebe die vielen Möglichkeiten hier auf dem Campus.“

Auf dem Youtube-Kanal von PD Dr. Dr. Sylvain Laborde findet man unter anderem ein Video zum internationalen Science Slam, der 2019 an der Kölner Sportuniversität stattgefunden hat. In dem Video singt Laborde zur Melodie von Sinatras My Way „My heart loves my brain.“ „Ich bin ein großer Fan von solchen Formaten. Es gibt nicht viele Möglichkeiten für Wissenschaftler*innen, ihre Forschung außerhalb der Universität zu präsentieren. Ich persönlich finde das aber sehr wichtig, die Erkenntnisse, die wir durch unsere wissenschaftliche Arbeit gewinnen, einer möglichst großen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Eine wissenschaftliche Präsentation anders denken, mit Kreativität, Musik und Humor, das macht sehr viel Spaß und man erhält Reaktionen, die man sonst nicht unmittelbar erfährt.“

Auf der Suche nach Adrenalin

Auf der Suche nach Adrenalin

Steht Sylvain Laborde nicht auf der Bühne, im Labor, im Seminarraum, am Klavier oder bei einem Coaching, treibt er Sport. Am liebsten Extremsport. „Ich bin quasi mein eigener Proband“, scherzt der Mitarbeiter des Psychologischen Instituts. Vor zwei Jahren ist der 37-Jährige gemeinsam mit einem Sporthochschul-Kollegen auf den Mont Blanc gestiegen. „Das war bislang meine größte Herausforderung, weniger sportlich, aber emotional. Ich habe Höhenangst und musste mich wirklich überwinden, nicht umzukehren. Ich habe immer wieder angehalten und Atemtechniken angewandt und mir versucht vorzustellen, wie fantastisch es sein wird, wenn man oben angekommen ist. Und so war es dann auch. Ein totaler Adrenalin-Push.“ Lässt Corona es zu, ist Laborde mindestens zehn Mal im Jahr bei seiner Familie in Frankreich. Jedes Jahr im August fährt er die Etappen der Tour de France in den Pyrenäen nach. „Ich brauche das einfach als emotionale Herausforderung, als Push. Ist der verflogen, suche ich mir ein neues Projekt.“

App-basiertes Entspannungstraining für Kaderathlet*innen

App-basiertes Entspannungstraining für Kaderathlet*innen

In seinem neuesten wissenschaftlichen Projekt entwickelt Laborde gemeinsam mit seinen Kolleg*innen Dr. Uirassu Borges und Dr. Babett Lobinger aus der Leistungspsychologie eine Smartphone-App mit Atemübungen für Kaderathlet*innen. Das Forschungsprojekt wird durch das Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) gefördert. Der genaue Projekttitel: Ausdauerleistung und Wohlbefinden von Athlet*innen in Zeiten von COVID-19: Entwicklung und Erprobung eines App-basierten Trainings mit Atemübung und Biofeedback. „Die Corona-Krise hat bei vielen Athlet*innen eine Verunsicherung in der Lebensplanung und dem Karriereverlauf ausgelöst – im sportlichen und außersportlichen Bereich. Um Sportlerinnen und Sportler bestmöglich bei der Bewältigung der Krise zu unterstützen, beschäftigten wir uns mit der Entwicklung und Erprobung eines innovativen App-basierten systematischen Entspannungstrainings. Auf der psychischen Ebene zielt dieses Atem- und Biofeedback-Training darauf ab, das subjektive Wohlbefinden zu steigern, um möglichen psychischen Auswirkungen und Belastungen der Krisensituation entgegenzuwirken. Auf der Ebene der sportlichen Leistungsfähigkeit soll das Atemtraining die Ausdauerleistung optimieren, indem es die Lungenkapazität vergrößert“, erklärt der Wissenschaftler. Es gibt also auch nach der Habilitation schon wieder eine Menge zu tun. Seinen Plan B, für eine Professur nach Frankreich zurückzukehren, hat er erstmal auf Eis gelegt. „Ich fühle mich sehr wohl hier in Köln und bin glücklich mit meiner Arbeit im Psychologischen Institut. Ich sehe mich in den nächsten Jahren sehr gerne hier an der Sporthochschule.“ Und wird es dem Tausendsassa doch einmal zu viel, dann atmet er tief durch.

Text: Lena Overbeck

Ergänzende Informationen

Education

Education

  • Habilitation (2019) German Sport University Cologne, Supervision: Prof. Dr. Dr. Markus Raab; Topic: “Vagal tank theory: a functional approach to self-regulation resources, bridging the gap between neurophysiology, cognitive psychology, and social psychology“
  • PhD in Psychology (2019) European PhD, Normandie Université Caen / German Sport University Cologne; Supervision: Prof. Dr. Fabrice Dosseville, PhD Thesis: “Slow-paced breathing and cardiac vagal activity: Influence on stress regulation, sleep, and cognitive executive performance”
  • PhD in Sport Science (2011) European PhD, University of Caen (France) and German Sport University, Cologne (Germany). PhD Supervisors: Prof. Dr. Luc Collard (Caen) and Prof. Dr. Dr. Markus Raab (Cologne); PhD thesis: “Psychological Factors and Performance: The Influence of Emotions on Athletes’ Decision Making”
  • Master in Psychology (2010) University of Caen, (France): Social and Organizational Psychology; Highest Class Average
  • Master in Sport Science (2007)
    • Master2 2006 2007 University of Caen, France Sport Psychology, thesis: “Influence of Laterality in Archery”
    • Master1 2005 2006 University of Las Palmas de Gran Canaria, Spain Sport Physiology, thesis: “Physiological Influence of Pedal Rate Choice in Cycling”
Honors and Awards

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