Nr. 6/2020

Der Chronist

Historiker? Das sind doch diese graugesichtigen Wissenschaftler, die ihr Leben gebeugt über verstaubte Bücher in Bibliothekskellern verbringen. Wer das wirklich glaubt, dem sei die Bekanntschaft Dr. Ansgar Molzbergers empfohlen.

Der 48-Jährige sitzt in seinem hellen, geräumigen Büro im Institut für Sportgeschichte, umgeben von historischen Dokumenten, Fotos von munteren Griechenland-Exkursionen und Plakaten vergangener Sport-Großereignisse. Hier wird nichts einsortiert und abgelegt; die Geschichte ist lebendig. Sie spricht zu denen, die sie betrachten. „Ich bin kein Zahlenfetischist“, sagt Molzberger. „Wer nur Daten auswendig lernt, bekommt kein Gefühl für das, was passiert ist. Mir geht es darum – und das versuche ich auch meinen Studierenden zu vermitteln – ein grundlegendes Verständnis zu wecken: Was hat zu einem bestimmten Phänomen geführt, warum ist es so und nicht anders geschehen?“

Dieser Ansatz leitet ihn schon lange. In den 90er Jahren hat er an der Deutschen Sporthochschule Köln studiert, legte sich auf Sportpublizistik fest. „Es war die Recherche, die mich gereizt hat. Dinge ans Tageslicht befördern – das tun Journalisten genau wie Historiker.“ Nachfragen, tief graben, Puzzleteile zusammenfügen, Wirklichkeit entstehen lassen: Das ist die Leidenschaft des Ansgar Molzberger. Auch für seine Dissertation suchte er sich ein historisches Thema. Es passte zu seinem zweiten Studienfach, Skandinavistik, das er an den Universitäten Köln und Stockholm absolvierte. Er schrieb über die Olympischen Spiele 1912 in Stockholm. Etwas blitzt in seinen Augen als er von der Recherche erzählt: „Schweden blieb in den Weltkriegen neutral; deshalb hat das Archivmaterial keinen Schaden erlitten, es liegt unzerstört und vollständig im schwedischen Reichsarchiv vor.“ Vor ihm hatte noch niemand das Thema bearbeitet, und Molzberger erkannte schnell, wie lohnend es war. „Die Spiele 1912 waren ein Meilenstein in der Olympischen Bewegung. Die modernen Olympischen Spiele gab es ja erst seit 1896. Von 1900 bis 1908 wurden sie an internationale Großausstellungen gekoppelt, damit sie besser wahrgenommen wurden. In Stockholm wurden sie dann als eigenständiges Großereignis organisiert – gleichzeitig aber sehr national inszeniert. Der Erste Weltkrieg stand kurz bevor, es war die Stunde der Nationalstaaten. Der völkerverbindende Gedanke der Olympischen Bewegung stand damals bei vielen nicht an erster Stelle. Dieses Spannungsfeld machte die Spiele für mich zum interessanten Forschungsobjekt.“

Nach dem Studium trat er eine Stelle am Deutschen Sport & Olympia Museum im Kölner Rheinauhafen an. Seine Aufgabe dort: Kuratieren, das heißt Wissen über Bilder und Gegenstände vermitteln. Als er 2012 an die Sporthochschule zurückkehrte, tat er genau das: Museumsarbeit im Hörsaal. Die sportbegeisterten jungen Menschen, die hier ein Studium aufnehmen, rechnen vielleicht nicht mit Vorlesungen in Sportgeschichte. Sie stoßen darauf, weil es im Lehrplan steht. Molzbergers Aufgabe ist es dann, sie Feuer fangen zu lassen. „Meine Erfahrung ist, dass beispielsweise mit Hilfe eines Fotos oder eines Objekts die Vermittlung von sporthistorischen Zusammenhängen gut gelingt.“ Er holt eine wissenschaftliche Zeitschrift hervor, auf deren Cover die US-Sprinter Tommie Smith und John Carlos in der „Black Power“-Pose bei den Olympischen Spielen 1968 zu sehen sind. Emporgereckte Faust, den Kopf entschlossen gesenkt. Die Geste der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die der Gesellschaft in den 60er Jahren einen Stoß versetzte. Während der „Black lives matter“-Bewegung der vergangenen Monate sah man US-amerikanische Athleten mit anderen, wirkmächtigen Gesten. Sie verweigerten das Mitsingen der Nationalhymne oder beugten das Knie. Politik und Öffentlichkeit reagierten stark darauf, eine Debatte wurde losgetreten. „Sport ist ein Kulturphänomen“, erklärt der Historiker. „Ich wünsche mir, dass sich die Studierenden damit kritisch auseinandersetzen.“ Ein Beispiel macht anschaulich, was er meint: Ein sportliches Großereignis trägt immer eine Botschaft in die Welt. Die Botschaft der Fußball-WM 2006 in Deutschland war: Wir sind ein friedliches, offenes Land. Man könnte also sagen, Sport wird instrumentalisiert. Es geht nie nur um den Wettbewerb. Der Staat hat ein Interesse daran, Sport zu fördern, weil der für seine internationale Repräsentanz sorgt. Sportler*innen können zu Vorbildern werden, die ein Land nach außen vertreten und nach innen zum Nacheifern anspornen. „Politik gehört zum Sport seit es Sport gibt. Sie kann ein riskantes Instrument sein, führt sie doch im schlechten Fall zu übersteigertem Nationalismus, zur Abwertung anderer Staaten und Völker.“

Ansgar Molzberger hat sich einem Kulturphänomen verschrieben, in dem er sich jeden Tag bewegt: der Deutschen Sporthochschule Köln, genauer: ihrer Chronik. 2020 feiert sie ihren 100. Geburtstag, wenn man die Gründung der Vorgängerinstitution, der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin, als Datum zu Grunde legt. „Was sich in all der Zeit nicht verändert hat, ist die Art Mensch, die sich von einem Sportstudium angezogen fühlt. Viele sind schon vor ihrer Einschreibung in Sportvereinen sozialisiert worden, haben also viel Zeit mit anderen Menschen verbracht, in der Mannschaft, im Team. Auch hier an der Spoho ist man sich körperlich viel näher als an anderen Unis, weil man gemeinsam Sport treibt. Die meisten laufen den ganzen Tag in Sportkleidung herum. Das führt zu der oft zitierten Lockerheit im Umgang miteinander. Die Identifikation der Studierenden und Mitarbeitenden mit dieser Hochschule ist sehr hoch. Das war auch früher so.“ Molzberger erzählt, dass ihm 85-Jährige das bei Ehemaligentreffen gerne bestätigen. Die Geschichte der Sporthochschule war aber nicht nur strahlend. „Es war ein zähes Ringen um die Anerkennung als Universität. Erst 1970, also nach der Hälfte unserer hundertjährigen Geschichte, kam es dazu. Das Thema Sport als Wissenschaft musste sich erstmal gesellschaftlich durchsetzen. Unter anderem aus den Kreisen der Geisteswissenschaft gab es viel Ablehnung.“

Und dann gab es da noch eine Zeit innerhalb der zurückliegenden 100 Jahre, die wie ein Riss durch die Geschichte geht. Zwischen 1933 und 1945 herrschten die Nationalsozialisten in Deutschland, der von ihnen entfachte Zweite Weltkrieg dauerte sechs Jahre und brachte Tod und Zerstörung über Europa. Aber 1947, zwei Jahre nach der Kapitulation und zwei Jahre vor der Gründung der Bundesrepublik, wurde die Sporthochschule Köln begründet. Köln gehörte zur Britischen Besatzungszone. Den Alliierten war klar, dass Sport- und Leibeserziehung für die Nationalsozialisten ein ideologisches Thema war. Der gestählte, arische Körper war in ihrer Rassenlehre den anderen überlegen; Kinder ließen sich leicht indoktrinieren, während man sie Leibesübungen lehrte. Es galt also, diese Ideologie zu überwinden und die Menschen zu demokratisieren. Dabei konnte man natürlich nicht auf das alte Personal zurückgreifen. Weil den – inzwischen bizonalen – Alliierten aber die Notwendigkeit eines Sportunterrichts und die Ausbildung der Sportlehrer*innen einleuchtete, fand man eine Lösung. Wer an der Sporthochschule studieren oder arbeiten wollte, musste Auskunft über eine etwaige Zugehörigkeit zu einer NS-Organisation in der Vergangenheit geben. Ein „Entnazisierungsausschuss“ entschied darüber, ob jemand angenommen oder abgelehnt wurde.

Die Geschichte der Sporthochschule ist – und das ist das Wesen von Geschichte – wechselvoll. In der Ausstellung im Treppenhaus des Hauptgebäudes, die das Institut für Sportgeschichte 2013 realisiert hat, wird das deutlich. Alle, die von unten nach oben gehen, können die Abfolge der Ereignisse in Bildern, Zeitungsausschnitten und kurzen Erläuterungen erleben. „Es funktioniert nur, wenn man sich bewegt“, erläutert Molzberger das Konzept. Und: „Die Idee war, dass die Ausstellung hier im Treppenhaus die größte Aufmerksamkeit erfährt.“ Gemeinsam mit einem Künstler, der sonst vorzugsweise Fassaden gestaltet, wurde sie umgesetzt. Selbst wer nicht stehenbleibt, nimmt im Vorbeigehen jedes Mal ein anderes Foto, eine neue Information wahr. Je öfter man die Treppen steigt, desto vollständiger wird das Bild: Die Geschichte der Sporthochschule ist nun sichtbar, sogar unübersehbar. Hier war der ehemalige Museumskurator ganz in seinem Element.

Auch andere Projekte tragen dazu bei, dass die Geschichte lebendig bleibt. „Zusammen mit der Zentralbibliothek arbeiten wir an einer archivbasierten, illustrierten Geschichte der Sporthochschule. In unserem Archiv warten Schätze darauf, gehoben zu werden! Es ist voll von bislang ungesehenen Bildern und Dokumenten. Wir wollen diese Schätze zeigen und zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit motivieren.“ Abgestaubt und neu erforschbar heißt die Buchreihe, die dabei entsteht. Sie ist eine Einladung an Wissenschaftler*innen, die Geschichte zu erforschen. Molzbergers Arbeit ist manchmal mühsam und kleinteilig. Dias müssen digitalisiert, alte Fotos richtig zugeordnet werden. Die historische Sammlung, die vor allem aus Nachlässen besteht, hat eine Gesamtlänge von über tausend Regalmetern. „Da fällt mir schon mal ein Foto in die Hand, von dem niemand weiß, aus welchem Jahrzehnt es stammt oder welche Personen darauf zu sehen sind. Aber je länger ich diese Arbeit mache, desto mehr Puzzleteile fügen sich zusammen. Das ist ein großartiges Gefühl“, schwärmt er.

Es wäre ein Irrtum, sich Molzberger ausschließlich zwischen Regalen oder am Schreibtisch vorzustellen. Seine Themen spielen sich oft draußen ab, in der Welt, wie sie gerade ist. Oder auf der Bühne. So hat er vor sechs Jahren zusammen mit seinem ehemaligen Kommilitonen Theo Vagedes – heute ein Bühnenprofi – und Studierenden den „SpoHoetry Slam“ ins Leben gerufen. Hier steht nicht immer der Sport, und schon gar nicht die Vergangenheit im Mittelpunkt. Mit Humor und Wortwitz tragen hier Studierende und Mitarbeitende vor Publikum selbst geschriebene Texte vor, in denen es um aktuelle Fragen wie die Lebensmittelverschwendung geht oder eine Reise zum eigenen Ich. Auch nachdenkliche Beiträge wie ein Gedankenexperiment zum Tod der eigenen Eltern haben hier ihren Platz. Die Zuschauer*innen entscheiden mit der Lautstärke ihres Applauses, wer gewonnen hat.

„Der Sport ist eine Brücke“, sinniert der Sporthistoriker. „Über den Sport finden die Menschen zusammen“, sagt er, der seit 15 Jahren Boxtraining betreibt. „Sport ist zum Beispiel wichtiger Bestandteil der Entwicklungszusammenarbeit. Mitarbeitende unserer Institute waren schon im Iran, in Süd- und Mittelamerika eingesetzt, um dort beim Aufbau von Einrichtungen zu unterstützen, die unserer Sporthochschule gleichen.“ Ein anderes Instrument, dessen durchschlagende Wirkung unumstritten ist: Sportvereine zu gründen, um Kindern aus Krisengebieten dabei zu helfen, ein Trauma zu bewältigen, Gemeinschaft zu erfahren und eine Perspektive zu entwickeln. Und nicht zu vergessen: „Die Geschichte zeigt, dass auf dem Sportplatz politische Annäherung mitunter spielerisch erfolgen kann.“, ergänzt Molzberger und lacht ein bisschen. Aber er meint es ernst. „Es ist ein Unterschied, ob man sich in Uniform, im Anzug oder in Sportkleidung trifft.“

Text: Anna Papathanasiou