Ein „Riss“ durch die Sportpolitik

Gerade läuft die Fußball-Europameisterschaft der Männer und jeden Tag beherrschen neue politische Statements die Schlagzeilen: Manuel Neuers Regenbogen-Kapitänsbinde, der Plan, die Allianz-Arena in München in Regenbogenfarben erleuchten zu lassen oder das Hinknien von einigen Spielern als Zeichen gegen Rassismus. Die Fußball-EM ist politisch. Zugleich stehen angesichts der Pandemie beträchtliche Herausforderungen an, auf die mit sportpolitischen Entscheidungen zu reagieren ist. Wie aber steht es um die europäische Sportpolitik und was sollte sich verändern?

Seit 2009 beschäftigt sich Prof. Jürgen Mittag zusammen mit den Mitarbeitenden des Instituts für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung mit der Zukunft der europäischen Sportpolitik. Im Projekt mit dem Titel „EU Sports Policy: Assessment and Possible Ways forward“ betrachtet das Forscher*innen-Team die Entwicklung der europäischen Sportpolitik seit 2009. Damals erhielt der europäische Sport mit dem Vertrag von Lissabon erstmals eine rechtliche Grundlage und eigene Kompetenzen. „Unsere Aufgabe war es, für das Europäische Parlament die Entwicklung der vergangenen zehn Jahren zu dokumentieren, Strukturen aufzuzeigen und Handlungsempfehlungen zu geben, was sich aus der gegenwärtigen Sportpolitik für die Zukunft ableiten lässt“, erklärt der Projektleiter.

Seit Lissabon ist die EU dafür zuständig, Aktivitäten im Sportbereich zu unterstützen und zu koordinieren; ein grundlegender Schritt hin zur europäischen Dimension des Sports. Allerdings können die EU-Organe keine Maßnahmen ergreifen, um Aktivitäten zu vereinheitlichen oder Zuständigkeiten zu verlagern. Deshalb ist ihr Ziel derzeit, in erster Linie weiche politische Maßnahmen wie die Förderung von Austausch und Werten im Sport oder die Entwicklung der europäischen Dimension des Sports umzusetzen. Dafür verteilt sie zum Beispiel Güter und Ressourcen.

In den vergangenen zehn Jahren, so zeigt Mittags Studie, hat sich die Zahl der beteiligten öffentlichen und privaten Akteure im europäischen Sport immer weiter gesteigert. Es werden zunehmend Branchen und Politikbereiche abgedeckt, es fließt mehr Geld und es beteiligen sich immer komplexere Formen der Interessenvertretung am Sport. Zusammengefasst: Es herrscht Wachstum und Differenzierung. „Immer mehr Akteure, Regeln, Programme, Geld und Prozesse machen die gegenwärtige europäische Sportpolitik komplex und kompliziert“, hält Mittag fest.

Während beispielsweise europäische Sportverbände viele Jahre lang sportbezogene Entscheidungen weitgehend selbstständig trafen, sind nun auch Ligen und Vereine, Spieler- und Trainervertreter, Spielerberater und verschiedene Agenturen beteiligt. Gesellschaftliche Veränderungen haben dazu geführt, dass öffentliche und private Akteure mit laufenden Debatten über die mehrdimensionalen Rollen, Funktion und Charakter der körperlichen Betätigung und des Sports auf europäischer Ebene konfrontiert werden. Ein Beispiel ist die Diskussion um Zeichen gegen Rassismus und für Vielfalt bei der Fußball-Europameisterschaft der Männer. In seiner Studie weist Mittag hier auf einen „Riss“ in der Beziehung zwischen den Interessen traditioneller (gemeinnütziger) Sportorganisationen und gewerblicher Anbieter in der Branche hin, auf den die Akteure in der EU derzeit nicht einheitlich reagieren.

Doch wie umgehen mit diesem Zustand? Auf Grundlage der Beobachtungen und Daten der Studie leiten Prof. Jürgen Mittag und sein Team vier zentrale Bereiche mit Handlungsempfehlungen für die Zukunft der europäischen Sportpolitik ab. Diese stellten sie dem Europäischen Parlament vor: 1) die Koordinierung auf allen Ebenen verbessern, 2) Prioritäten setzen und dabei den Fokus auf Integrität, körperliche Betätigung, Gesundheit und Bildung im und durch Sport legen, 3) eine regelmäßigere Behandlung des Themas Sport im Europäischen Parlament verankern und 4) die Qualität der Maßnahmen durch einen verbesserten Informationsfluss und grenzübergreifende und vergleichende Studien evaluieren.

Projektpartner: Willibald-Gebhardt-Institut an der Universität Münster, ENGSO Youth, EUPEA-Netzwerk

Ergänzende Information:
In einem aktuellen Interview mit dem Deutschlandfunk beschreibt Prof. Jürgen Mittag, inwiefern das Verhältnis von Sport und Politik gerade neu verhandelt wird. Zur Audio-Datei gelangen Sie hier.