Nr. 2/2023

From Zero to Hero: Pilgern mit Diabetes

Bewegung an der frischen Luft regt den Stoffwechsel an, wirkt entzündungshemmend und kann das Risiko für Depressionen senken. Was aber tun, wenn man sich bisher nicht gerne sportlich betätigt hat und der Mangel an Bewegung eine Ursache für das ist, was einen krank macht? Wie findet man unter diesen Voraussetzungen einen Zugang zu körperlicher Aktivität? In einer Pilotstudie untersuchten Forschende der Deutschen Sporthochschule Köln erstmals Menschen mit Typ-2 Diabetes mellitus im Rahmen einer fünftägigen Pilgerwanderung. Ihre Daten zeigen: Wandern ist für Menschen mit Typ-2 Diabetes mellitus eine gute Einstiegssportart, steigert das Wohlbefinden und die Lebensqualität und führt bei den Betroffenen zu keiner außergewöhnlichen Belastung im Diabetesmanagement. Was Menschen mit Typ-2 Diabetes mellitus vor längeren Wandertouren beachten sollten, erklärt Promotionsstudentin Frederike Meuffels. Sie hat die Daten der Studie ausgewertet.

Weltweit leiden rund 540 Millionen Menschen an Diabetes. Bei den meisten von ihnen ist die Krankheit durch den Lebensstil bedingt. Eine unausgewogene Ernährung, Übergewicht und Bewegungsmangel gelten als Hauptrisikofaktoren des sogenannten Typ-2 Diabetes mellitus. Als Folge reagieren die Zellen der Betroffenen schlechter auf das Hormon Insulin, das im menschlichen Körper dafür sorgt, dass Zucker (Glukose) aus dem Blut in die Zellen gelangt. Der Zucker, der eigentlich in den Zellen gebraucht wird, bleibt im Blut und der Blutzuckerspiegel steigt an. Ist der Blutzuckerspiegel über lange Zeit zu hoch, kann das schwerwiegende Folgen haben: Nieren, Augen und Nerven werden geschädigt und das Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall steigt. Körperliche Aktivität kann den Betroffenen helfen. Sie wird sogar von Mediziner*innen empfohlen. Doch viele Betroffene finden keinen Zugang zu Bewegung.

Wandern ist ein guter Einstieg für mehr Bewegung

„Wandern ist ein besonderes Naturerlebnis, bei dem nicht unbedingt die sportliche Herausforderung im Vordergrund stehen muss. Man kann es unterschiedlich anstrengend gestalten und bei unserem Pilgerprojekt kam das Gemeinschaftserlebnis hinzu“, sagt Frederike Meuffels. Die junge Wissenschaftlerin promoviert an der Sporthochschule. In ihrer Forschung interessiert sie sich vor allem dafür, wie man Menschen motivieren kann, mehr Bewegung in ihren Alltag zu integrieren. Bei Menschen mit Typ-2 Diabetes mellitus kann Wandern eine geeignete Einstiegssportart sein. Auch, weil Wandern ohne großen Aufwand für die meisten Menschen direkt umsetzbar ist. „Viele Betroffene haben nicht von klein auf gelernt, sich zu bewegen, oder schlechte Erfahrungen gemacht. Oft löst schon das Wort ‚Sport‘ ein Warnsignal aus. Daher ist es besser, zunächst von mehr Bewegung zu sprechen“, erklärt Meuffels.

Sport und Bewegung können vor allem für Typ-2-Patient*innen, die insulinpflichtig sind, also regelmäßig Insulin spritzen, eine besondere Herausforderung darstellen. Bei ihnen kann es bei längerer oder intensiverer körperlicher Aktivität notwendig sein, die gewohnte Insulindosis oder das Essverhalten anzupassen. Frederike Meuffels beschreibt: „Zucker wird bei Bewegung weitestgehend insulinunabhängig in die Muskeln aufgenommen. Das ist das Tolle daran: Man muss gegebenenfalls weniger Insulin spritzen.“ Die Herausforderung besteht darin, die richtige Insulinmenge oder die Menge der zugeführten Kohlenhydrate individuell an die Belastung anzupassen. Verschätzen sich die Betroffenen, könnte im schlimmsten Fall eine lebensbedrohliche Unterzuckerung drohen. Um eine Möglichkeit zu schaffen, Menschen mit Typ-2 Diabetes mellitus in diesem Prozess zu begleiten, hat der Diabetologe Dr. Hans-Peter Kempe in Kooperation mit der AG „Diabetes, Sport und Bewegung“ der Deutschen Diabetes Gesellschaft ein Gruppenprojekt initiiert: begleitetes Wandern auf dem Jakobsweg. Die Idee war es, über das gemeinsame Wandern einen Zugang zu körperlicher Aktivität zu schaffen und diabetesbedingte Ängste abzubauen.

Pilotstudie: 23 Menschen mit Typ-2 Diabetes mellitus auf dem Jakobsweg

Um zu untersuchen, inwiefern eine mehrtägige Pilgerwanderung mit Menschen mit Typ-2 Diabetes mellitus umsetzbar ist und welche Effekte sich zeigen, hat sich Kempe Unterstützung von Wissenschaftler*innen der Deutschen Sporthochschule Köln und der IST-Hochschule Düsseldorf geholt. In einem gemeinsamen Projekt unter der Leitung von Prof. (FH) PD Dr. Christian Brinkmann haben die Forschenden erstmals überhaupt eine Diabetes-Wandergruppe wissenschaftlich begleitet. Die Ergebnisse ihrer Studie wurden im International Journal of Environmental Research and Public Health unter dem Titel „From Zero to Hero: Type 2 Diabetes Mellitus Patients Hike on the Way of St. James – A Feasability Study with Analyses of Patient’s Quality of Life, Diabetes Distress and Glucose Profile” veröffentlicht. „Unser Ziel war es herauszufinden, ob die Teilnehmer*innen in der Lage sind, eine solche Leistung zu erbringen und welchen Einfluss die Wanderung auf ihre Lebensqualität, ihr Wohlbefinden und ihren Diabetes-Distress, also die Belastung durch ihre Erkrankung, hat“, sagt Frederike Meuffels, Erstautorin der Publikation und Doktorandin bei Studienleiter Brinkmann.

Für ihre Pilotstudie führten die Forschenden mit 23 Menschen mit Typ-2 Diabetes mellitus eine fünftägige begleitete Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg (Ferrol – Santiago de Compostela) durch. Pro Tag legten die Teilnehmenden eine Strecke von etwa 25 Kilometern zurück. Die neun Frauen und 14 Männer waren im Durchschnitt 66 Jahre alt und seit etwa 15 Jahren an Diabetes erkrankt. Die Mehrheit nahm Medikamente. Zehn der Teilnehmer*innen waren insulinpflichtig. Um den Verlauf der Zuckerkonzentration zu verfolgen, wurden regelmäßig Messungen mit Sensoren zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM-Sensoren) durchgeführt. Um die medizinische Versorgung zu gewährleisten, begleiteten drei Ärzt*innen, zwei Diabetologen und ein Sportwissenschaftler die Wandergruppe. „Jeden Abend gab es eine Tagesbesprechung und die Teilnehmenden konnten sich für den nächsten Tag in eine von drei Wandergruppen einteilen: etwas langsameres Tempo, mittleres Tempo und schnelles Tempo. In jeder Gruppe waren Betreuer dabei, sodass sich die Teilnehmenden sicher fühlen konnten“, beschreibt Meuffels.

Auf dem Hin- und Rückflug nach Spanien füllten die Teilnehmenden Fragebögen zur Bewertung ihrer Lebensqualität und zum Diabetes-Distress aus. Die Daten dienten den Wissenschaftler*innen als Anhaltspunkt dafür, wie sich die Bewegungsintervention auswirkt. Um einer Unterzuckerung vorzubeugen, reduzierten die Teilnehmenden in Absprache mit dem Fachpersonal während der Touren die Menge an Insulin, die sie sich standardmäßig zuführen.

Längeres Wandern ist machbar, steigert Wohlbefinden und Lebensqualität

„Während des Wanderns gab es keine ernsthaften gesundheitlichen Zwischenfälle und alle Teilnehmer*innen haben die Strecke geschafft. Unser zentrales Ergebnis ist also: Eine solche Wandertour ist mit Diabetes gut möglich. Besonders gefreut hat uns, dass sich das Wohlbefinden und die Lebensqualität signifikant verbessert haben und der Diabetes-Distress nicht zugenommen hat“, resümiert Meuffels. Gerade letzteres war für die Wissenschaftler*innen überraschend. Denn sie waren davon ausgegangen, dass die Bewegung bei den Teilnehmenden zu einer Mehrbelastung führt, weil die Insulinpläne angepasst und besonders engmaschig überwacht werden müssen.

Im Anschluss an das erfolgreiche Leuchtturmprojekt sollen nun auch weitere Projekte das Thema Wandern und Diabetes aufgreifen. In der untersuchten Gruppe, so vermuten die Wissenschaftler*innen, haben die Gruppendynamik, die individuell anpassbare Geschwindigkeit und die Begleitung durch Fachpersonal dazu beigetragen, dass alle Teilnehmenden ihr Ziel erreicht haben. Die Ergebnisse der Studie, so hoffen die Forscher*innen, können für Betroffene eine Motivation sein. Denn viele von ihnen, so heißt es in der Studie, bewegen sich auch deshalb wenig, weil sie befürchten, dass das Insulinmanagement bei Bewegung zu schwierig sein könnte. Diese Befürchtung konnten die Forschenden entkräften.

Vier Tipps von der Expertin: Wie gelingt der Einstieg?

Menschen mit Diabetes, die sich gerne mehr bewegen oder Wandern ausprobieren möchten, rät Frederike Meuffels, sich auf jeden Fall vorher ärztlich beraten zu lassen und sich am besten einer begleiteten Wanderung anzuschließen. Die nächste Gelegenheit bietet sich zum Beispiel beim Gesundheitswandertag der Deutschen Diabetes Gesellschaft am 6. Mai. „An diesem Tag werden ein Startpunkt und eine Route festgelegt und dann wird etwa 90 Minuten gewandert. Zwischendurch gibt es aktive Pausen mit Entspannungsübungen, Koordinationstraining oder auch kleinen Kräftigungsübungen“, sagt Meuffels. Menschen mit insulinpflichtigem Typ-2 Diabetes mellitus sollten immer ein Blutzuckermessgerät und zuckerhaltige Nahrungsmittel wie Traubenzucker oder zuckerhaltige Getränke mitnehmen. So kann eine drohende Unterzuckerung frühzeitig erkannt und ihr schnell und effektiv vorgebeugt werden.

Nach ihrer Pilotstudie zum Wandern mit Diabetes widmet sich Meuffels nun einem möglichen Einfluss chronobiologischer Faktoren. Die Chronobiologie beschäftigt sich mit biologischen Rhythmen, denen der Mensch unterliegt. Frederike Meuffels will herausfinden, wann der Körper optimal auf Bewegung reagiert. „Derzeit läuft eine Studie zum Einfluss von Spazierengehen. Wir untersuchen, wie sich Spaziergänge nach dem Abendessen auf das nächtliche Glukoseprofil und die Schlafqualität auswirken“, erklärt die Forscherin. Ihre Erkenntnisse könnten auch Diabetes-Patient*innen helfen, den perfekten Trainingszeitpunkt zu finden, um die körperliche Aktivität möglichst effizient zu gestalten.

Text: Marilena Werth

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