Nr. 4/2016

Entscheidungsverhalten junger Fußballspieler: Wann wird man zum guten oder weniger guten Entscheider?

Lisa Musculus hat in Köln (B.Sc.) und Konstanz (M.Sc.) Psychologie studiert und sich bereits während des Studiums für das Anwendungsfach Sportpsychologie begeistert. Seit Ende 2014 promoviert sie am Psychologischen Institut, Abteilung Leistungspsychologie, der Deutschen Sporthochschule Köln. In ihrem längsschnittlichen Promotionsprojekt untersucht sie, wie sich Entscheidungsprozesse im Laufe des Kindes- und Jugendalters entwickeln, und verbindet darin eine kognitions- und entwicklungspsychologische Perspektive zur Vorhersage von Expertiseentwicklung im Sport.

Betrachtet man Ihren Werdegang und Ihre Publikationen erkennt man, dass Sie sich der sportpsychologischen Betreuung im Fußball verschrieben haben. Wie sind Sie zu diesem Forschungsschwerpunkt gekommen?

Zunächst einmal ist meine Familie absolut fußballverrückt. Zwar habe ich selbst nie im Verein gekickt, dafür aber mein Vater, Onkel, Bruder und Cousin, teilweise sogar als Profis in der Bundesliga. Meine Samstagnachmittage habe ich also klassisch auf dem Fußballplatz verbracht, und das fand ich spitze. Das Interesse am und den Zugang zum Fußball habe ich also von klein auf mitgebracht. Während meines Psychologiestudiums habe ich dann angefangen, mich für das Anwendungsfach Sportpsychologie und insbesondere für kognitive Leistung und Entscheidungsverhalten im Fußball zu interessieren. Durch ein Praktikum bei Babett Lobinger am Psychologischen Institut der Sporthochschule und meinen Master in Konstanz hat sich mein Wunsch verstärkt, auf dem Gebiet Sportpsychologie zu forschen und auch zu promovieren. Vor allem den Mehrwert, der durch Testen von Theorien in natürlichen Situationen oder Kontexten entstehen kann, fand und finde ich spannend: Der Sport ist zum Beispiel ein ideales Testbett, um komplexe kognitive Prozesse zu untersuchen. Der Forschung zur sportpsychologischen Betreuung im Fußball spielt natürlich in die Karten, dass das Thema in den letzten Jahren sehr publik und populär geworden – nicht zuletzt durch Hans-Dieter Hermann* und die deutsche Fußballnationalmannschaft beim Sommermärchen 2006.

Sie haben schon viele Erfahrungen aus der sportpsychologischen Praxis in Fußballvereinen gesammelt, unter anderem beim 1. FC Köln und bei Arminia Bielefeld. Können Sie ein Beispiel nennen, welches die Rolle der sportpsychologischen Betreuung im Nachwuchsleistungssport verdeutlicht?

Bei Arminia Bielefeld habe ich als Projektmitarbeiterin von Babett Lobinger das sportpsychologische Konzept des Nachwuchsleistungszentrums (NLZ) mit aufgebaut. Die Beratung und Betreuung umfasste dabei viele Bausteine: Einzelberatung von Spielern, Trainergespräche, Mannschaftsworkshops zu konkreten psychologischen Themen. Klassische Fragen sind zum Beispiel Konzentration im Sport, Umgang mit Drucksituationen im Wettkampf oder der Umgang mit Motivationslöchern. Hier wird mit allen Techniken und Fertigkeitstrainings der Psychologie unterstützt. Eine Jugendmannschaft hatte zum Beispiel einen schwierigen Start in die Saison und bereits sehr viele Gegentore bekommen. Mit diesen Spielern haben wir dann das Thema Routine bearbeitet, das heißt, wie sie damit umgehen, wenn sie ein Gegentor bekommen. Ein anderer Fall war das Coaching eines Spielers, der das Gefühl entwickelt hat, den Fußball, die Schule sowie Familie und Freunde nicht mehr unter einen Hut zu bekommen und keinem mehr gerecht zu werden. Hier haben wir mithilfe systemischer Techniken daran gearbeitet, die eigenen Rollen des Jungen zu sortieren, zu differenzieren und auch konkrete Entscheidungen zu treffen.

Was reizt Sie an der Promotion und am wissenschaftlichen Arbeiten generell?

Ich bin wirklich ein neugieriger Mensch mit einem großen Wissensdurst. Zudem macht mir beim wissenschaftlichen Arbeiten wirklich alles Spaß: der kreative Prozess der Themenfindung, das Lesen von Texten und Papern, die Diskussionen, das Schreiben selbst und nicht zuletzt die Kommunikation der Ergebnisse. Ich finde es wichtig, wissenschaftliche Themen und Ergebnisse mit einem Fachpublikum zu diskutieren, aber auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und hierbei auch mal einen Zugang zu finden, der nicht abschreckt, weil er hochgradig theoretisch ist, sondern begeistert, weil das Thema praxis- und realitätsnah ist. 

Im Rahmen Ihrer Promotion beschäftigen Sie sich mit dem Entscheidungsverhalten junger Fußballer, dem sogenannten 'heuristischen Entscheiden'. Was ist darunter zu verstehen?

Heuristisches Entscheiden bezeichnet kognitive Strategien, die – basierend auf wenigen Informationen – zu sehr guten Entscheidungen führen können. Man könnte auch ‚kognitive Short-Cuts‘ dazu sagen. Heuristiken lassen sich im Sport besonders gut untersuchen, weil Sportsituationen per se zeitbegrenzt und dynamisch sind und die Sportler oft nicht die Zeit dazu haben, alle Informationen wahrzunehmen, zu gewichten und zu integrieren, denn dann wäre der Spielzug schon vorbei. Heuristiken basieren auf der Grundannahme, dass unsere Rationalität begrenzt ist und man nicht alle Informationen nutzen muss, um zu einer guten Entscheidung zu kommen, nach dem Motto 'weniger-ist-mehr'. Der theoretische Startpunkt meiner Untersuchung ist dabei die sogenannte Take-The-First-Heuristik (TTF), die bereits im Sport getestet wurde und  folgendes besagt: In einer Situation, in der ein erfahrener Spieler eine Entscheidung treffen muss, generiert er zwei bis drei Optionen, stoppt dann die Suche nach weiteren Informationen und wählt überzufällig häufig die erste Option als finale Entscheidung aus. 

Wie sieht die Untersuchung dazu konkret aus? 

Unsere Teilnehmer im Alter von acht und 14 Jahren sehen auf einem Tablet Spielsituationen aus dem Fußball, zum Beispiel Aufbauspiel oder Angriffssituationen. Im Moment, in dem der ballführende Spieler eine Entscheidung treffen muss, stoppen die Szenen und die Probanden müssen dann überlegen, wie sie in der Situation weiterspielen würden. Ihre Optionen tragen die Kinder auf dem Touchpad ein, indem sie zum Beispiel die Passwege aufmalen oder die Mitspieler markieren, die sie anspielen würden. Das ist die Phase der Optionsgenerierung. Danach sollen die Kinder entscheiden, welche dieser eigens generierten Optionen die beste war. Und danach wiederum bewerten die Kinder alle ihre Optionen sukzessive. Die Untersuchung ist als Kohorten-Längsschnittstudie angelegt, bei der Spieler der U8 bis U14, also sieben unterschiedliche Altersgruppen, an vier Messzeitpunkten im Abstand von sechs Monaten untersucht werden. Messung 3 (T3) ist gerade abgehakt, die vierte und erstmal letzte Messung (T4) steht im Februar 2017 an.

Welche Forschungsfragen werfen Sie dazu auf?

Aus anderen Expertisestudien weiß man mittlerweile, dass sich ab einem bestimmten Alter und Leistungsniveau die guten von den weniger guten Spielern nicht mehr durch motorische Fertigkeiten unterscheiden, sondern durch perzeptuell-kognitive Fertigkeiten, wie auch durch die Fähigkeit, gute Entscheidungen zu treffen. Ich untersuche also, wie sich (1) heuristisches Entscheiden im Sport im Kindes- und Jugendalter entwickelt, ob (2) heuristisches Entscheiden Expertise im Sport vorhersagen kann und ob (3) ein möglicher Zusammenhang von heuristischem Entscheiden und Expertise altersabhängig ist.

Gibt es schon erste Ergebnisse aus T1 bis T3?

Die vorläufigen Ergebnisse der bisherigen Untersuchungszeitpunkte stützen die Vorhersagen der Take-The-First-Heuristik. Die Spieler generieren im Durchschnitt zwei bis drei Optionen. Bei ca. 70 Prozent der Entscheidungen bewerten die Spieler ihre erstgenerierte Option als die beste, wählen also im klassischen Sinne ‚Take The First'. Bestätigt hat sich auch die Annahme, dass eine größere Anzahl generierter Optionen nicht zu einer qualitativ hochwertigeren Entscheidung führt. Das heißt: Je mehr Optionen die Kids generieren, desto eher verhalten sie sich dynamisch inkonsistent, das heißt: Nicht die erste Option wird als beste gewählt, sondern häufiger eine später genannte Option und damit eine qualitativ schlechtere. Die Optionen selbst und auch die Qualität der Optionen haben wir zuvor von unabhängigen Jugendtrainern als Experten bewerten lassen. Deren Einschätzungen dienen als Kriterium für die Auswertung der Entscheidungsqualität.

Ein anderes Projekt, an dem Sie beteiligt sind, trägt den interessanten Titel 'High-Five vs. Power-Posen'. Worum geht es dabei?

Hierbei handelt es sich um ein Projekt mit drei KollegInnen Franzi Lautenbach, Damian Jeraj und Jonna Loeffler aus der Abteilung Leistungspsychologie, für welches wir dieses Jahr eine hochschulinterne Forschungsförderung erhalten haben. Spannend ist dabei, dass der sogenannte ‚Power-Posing-Effekt‘ momentan heiß diskutiert und sogar in Frage gestellt wird. ‚Power-Posing‘ ist in der Psychologie als ein Phänomen bekannt, bei dem das Einnehmen selbstbewusster Körperhaltungen bestimmte Wirkmechanismen auf physiologisch-hormoneller und behavioraler Ebene hervorruft. Hier bietet sich der Sport wieder als perfektes Testbett an, denn auch im Sport kennen wir Power-Posen sehr gut – denken wir nur an die ‚Jubel-Pose‘ des italienischen Fußballnationalspielers Mario Balotelli im EM-Halbfinale 2012 gegen Deutschland. Neben den Power-Posen kennen wir im Sport auch ‚High-Five‘, also das Einschlagen oder Abklatschen mit Teamkollegen. Dies vergleichen wir gerade in dem Projekt und beobachten dabei natürlich sehr genau, wie sich die Diskussionen zum Power-Posing-Effekt generell entwickeln.

Wie stellen Sie sich den weiteren Verlauf Ihrer wissenschaftlichen Karriere und beruflichen Laufbahn vor?

(lacht) In der Psychologie stellen wir ja gerne die therapeutische Wunderfrage: Wenn über Nacht ein Wunder passieren würde, was wäre dann morgen? Darauf würde ich sagen: Ich möchte gerne an der Uni bleiben, Fragestellungen erforschen, forschende Lehre betreiben und forschen, forschen, forschen. Ich kann mir auch einen kleinen Teil theoriebasierter Anwendung vorstellen, vielleicht bei einem Fußballverein, aber mein Herzenswunsch wäre, an der Uni zu bleiben und möglichst viel Zeit zu haben, eigene Ideen und Themen zu überprüfen und resultierende Forschungsergebnisse in einer Art und Weise zu kommunizieren, die Menschen erreicht.

* Hans-Dieter Hermann ist ein deutscher Psychologe, der v.a. durch seine Tätigkeit als Teampsychologe der Deutschen Fußballnationalmannschaft bekannt ist.