Nr. 6/2022

Die Wechselbeziehung von Bewegung und Belastung

Die Biomechanik ist seine Leidenschaft und das bereits seit 23 Jahren. Eine weitere Leidenschaft gehört dem Fußball. In guten Monaten konnte er als Spieler von Troisdorf 05 und Spvgg Hürth-Hermülheim seine Miete vom Fußballgeschäft bezahlen. Heute ist der Fußball, insbesondere die Belastungsstruktur bei Nachwuchsspielern, ein wichtiger Bestandteil seiner Forschung. Die Rede ist von Wolfgang Potthast, Professor für klinische Biomechanik an der Deutschen Sporthochschule Köln.

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Potthast studierte Physik und Sport – eine perfekte Kombi für die Biomechanik. Dabei war diese zunächst gar nicht sein Ziel. Eigentlich wollte der 55-Jährige Lehrer werden. Über ein Projekt im Rahmen seiner Diplomarbeit kam er an das Institut für Biomechanik und blieb. Zunächst als studentische Hilfskraft, später als Promotionsstudent und wissenschaftlicher Mitarbeiter. Heute leitet er die Abteilung für klinische und technologische Biomechanik, eine von insgesamt drei Abteilungen des Instituts. Ein wichtiger Karriere-Baustein seiner wissenschaftlichen Laufbahn führte ihn von 2010 bis 2012 weg von der Sporthochschule – zum KIT. Am Karlsruher Institut für Technologie  übernahm Potthast eine Vertretungsprofessur für Bewegungswissenschaften und Biomechanik und war Leiter des BioMotion-Centers. „Ich halte es für äußerst wichtig, unterschiedliche Eindrücke zu sammeln. Das fängt bereits im Studium an, mit dem Wegzug von Zuhause, einem Auslandssemester, Nebenjobs und Praktika. Die Zeit in Karlsruhe war sehr wertvoll – auf wissenschaftlicher Ebene, aber auch für mich persönlich. Ich habe mir in der Zeit ein sehr großes Netzwerk aufgebaut und Einblicke in Forschungsbereiche erlangt, die mir bis dato weniger zugänglich waren“, sagt Potthast.

Seit 2012 ist der gebürtige Sauerländer Professor für klinische Biomechanik an der Kölner Sportuniversität. Im Mittelpunkt seiner Forschung steht der Bewegungsapparat des menschlichen Körpers und die Frage, wie sich Bewegung und Belastung auf diesen auswirken. Das dahinterliegende Ziel: Klinische, technologische und trainingsbezogene Interventionen optimieren. „Wir untersuchen, wie Kräfte auf und in biologischen Strukturen wirken – Muskeln, Knochen, Knorpel und Sehnen. Zu hohe Belastungen zerstören Strukturen oder führen zu Verletzungen. Zu geringe Belastungen führen dazu, dass sich Strukturen abbauen. Im idealen Belastungsfenster passen sich Strukturen an. Da wollen wir hin“, erklärt Potthast. Ein Beispiel hierfür ist seine Forschung im Kinder- und Jugendfußball.

Belastungsstrukturen von Nachwuchsfußballspielern

In Rahmen eines Kooperationsprojektes mit dem Fußballbundesligisten TSG 1899 Hoffenheim untersucht Potthast die Belastungsstrukturen von Nachwuchsfußballspielern (U12, U15, U16 und U23). Die Untersuchungen finden im Footbonauten statt, einem hochtechnisierten Trainingsgerät, das standardisierte Tests ermöglicht. In einer Art „Käfig“, dessen Wände aus insgesamt 72 Quadraten bestehen, bewegen sich die Fußballer auf einer 14 mal 14 Meter großen Rasenfläche. Insgesamt vier Ballmaschinen, an jeder Wand eine, geben Bälle bis 120 km/h aus. Die Fußballer sollen diese Bälle gemäß der gestellten Aufgabe verarbeiten und in eines der aufleuchtenden Quadrate befördern. „In den letzten Jahren kommt es im Fußball zunehmend zu Arten von Verletzungen, die früher in dieser Häufung nicht beobachtet werden konnten – zum Beispiel Schambeinentzündungen, Risse oder Teilrisse der Adduktorenmuskulatur sowie Schädigungen der Sehnenansätze am Becken. Uns interessieren die Ursachen“, erklärt Potthast seinen Forschungsansatz. Was der Wissenschaftler und sein Team herausgefunden haben: „Bei Richtungswechselbewegungen und beim Passen haben die Adduktoren eine charakteristische Belastungsstruktur. Sie sind höher beansprucht, als wir gedacht und gewusst haben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine bestimmte Art von Training diesen Verletzungen vorbeugen könnte. Gerade bei Kindern und Jugendlichen muss man sehr genau schauen, was man wann macht. Bestimmte Wachstumsphasen sind besonders vulnerabel. Es gibt beim Passen Indizien dafür, dass die muskuläre Belastung bei einer schlechten Ballkontrolle höher ist und zu Belastungsspitzen führen könnte. Für das Training abgeleitet ergibt sich also die Empfehlung, Ballkontrolle mit zu trainieren.“ In einer aktuellen Längsschnittuntersuchung wollen Potthast und sein Team ihre bisherigen Erkenntnisse experimentell überprüfen.

Biomechanische Forschung mit konkretem Praxisbezug

Eine vielbeachtete Studie, die nicht nur deutschlandweit für große Medien-Aufmerksamkeit sorgte, war die von Potthast durchgeführte Rehm-Studie. Der unterschenkelamputierte Weitspringer Markus Rehm hatte im Jahr 2016 beim Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und dem Internationalen Leichtathletik-Verband (IAAF), heute World Athletics, einen Antrag gestellt, bei den Olympischen Spielen in Rio teilzunehmen. Dort sagte man ihm, dass er nur starten dürfe, wenn er nachweisen könne, dass er durch die Prothese keine Vorteile gegenüber Springern ohne Prothese habe. „So kam es dazu, dass wir im Frühjahr 2016 diese Studie gemeinsam mit Markus Rehm und anderen Leichtathleten durchgeführt haben“, erzählt Potthast. Das Ergebnis: Durch die Studie konnten die Biomechaniker eindeutig zeigen, dass Rehm in der Phase des Absprungs einen deutlichen Effizienz-Vorteil hat. „Durch seine Prothese hat Markus nach dem Absprung mehr Energie als davor – Leichtathleten ohne Prothese verlieren dagegen im Absprung Energie. Die Weitsprungweite hängt aber auch von der Anlaufgeschwindigkeit ab. Hier hat sich gezeigt, dass die Weitspringer mit Prothese langsamer anlaufen als Springer ohne Prothese. Wir konnten den Nachteil im Anlauf aber nicht nachweisen und somit auch nicht gegen den Vorteil aufwiegen“, erklärt Potthast. Am Ende durfte Markus in Rio nicht starten.

Bei all seinen Forschungsprojekten ist dem Wissenschaftler der Praxisbezug besonders wichtig: „Wir verfolgen einen klaren angewandten und translationalen Ansatz. Translationale Forschung bedeutet, dass wir relevante Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung in klinisch anwendbares Wissen übersetzen.“ So ist Potthast zum Beispiel an der Entwicklung eines neuen Knieimplantats beteiligt, das bei Patient*innen mit einer beginnenden oder auch schon etwas fortgeschritteneren Kniegelenksarthrose zur Anwendung kommen kann. Dieser so genannte Spacer soll bei entsprechender Indikation minimalinvasiv in den Gelenkspalt eingebracht werden, wodurch sich die Kontaktkräfte über eine größere Fläche verteilen und die schädlichen Druckspannungen reduziert werden. „Perspektivisch könnte durch den Spacer in vielen Fällen auf den Einsatz von Knieprothesen verzichtet werden“, erklärt Potthast. Genau solche Studien sind es, die Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Potthast begeistern: „Biomechanische Forschung macht mir dann am meisten Spaß, wenn sie einen ganz konkreten Praxisbezug hat und idealerweise jemandem hilft.“ Das führt den Physiker und Sportwissenschaftler manchmal auch zu Aufgaben, die man von einem Professor an einer Sportuniversität eher nicht vermutet.

Forensische Gutachten: Expertise bei Gericht gefragt

So ist Potthasts Expertise immer mal wieder am Landgericht Köln gefragt. Bei einem „seiner Fälle“ ging es um eine Bankautomaten-Sprengung in Köln-Rodenkirchen. Es gab Überwachungsvideos und zwei Tatverdächtige, einer davon geständig. „Meine Aufgabe war es, eine Bewegungsanalyse durchzuführen. Ich sollte eine Stellungnahme dazu abgeben, ob der zweite Tatverdächtige grundsätzlich in der Lage gewesen wäre, die Tasche mit der Beute wegzutragen“, erklärt Potthast. In einem anderen Fall war Potthasts Expertise in der Schuldfrage nach einem Verkehrsunfall gefragt. Ein Kind war von einem Auto erfasst worden und hatte schwere irreparable Verletzungen erlitten: Es war beim Spielen eine Böschung heruntergerutscht, an deren Ende über eine Mauer gesprungen und so auf die Fahrbahn geraten. „Meine Aufgabe war es herauszufinden, wie lange das gedauert hat. Also: ob die fahrende Person genug Zeit gehabt hätte, das Kind zu sehen“, erklärt Potthast und ergänzt: „Das ist natürlich tragisch und im Vergleich zur Automatensprengung, bei der niemand verletzt wurde und noch nicht einmal viel Beute gemacht wurde, eine schreckliche Geschichte. Aber wenn ich glaube, dass das eine gute Sache ist, dann mache ich das. Das finde ich wichtig. Entweder ich trage dazu bei, dem Kind bei der Schadensersatzleistung zu helfen oder der fahrenden Person, dass sie nicht stärker bestraft wird als nötig.“

Abseits der Biomechanik, wenn Potthast nicht forscht, lehrt oder forensische Gutachten erstellt, betreibt er gerne Ausdauersport, am liebsten auf dem Rennrad. „Ich bin jetzt in einem Alter, in dem Hüfte und Knie keine Lust mehr auf Fußball und Laufen haben“, scherzt Potthast, der 1967 in Möhnesee geboren und in Soest aufgewachsen ist. Vor drei Jahren entdeckte der frühere Triathlet das Rennradfahren wieder für sich und fährt seitdem regelmäßig mit den Kolleginnen und Kollegen aus seiner Abteilung. „Bei uns gibt es flache Hierarchien. Das ist nichts, was man erzwingen kann, das entwickelt sich idealerweise.“

Aktuell besteht sein Team aus 15 Mitarbeitenden, seit 2012 haben zehn Doktorand*innen bei ihm promoviert. Nachwuchswissenschaftler*innen zu fördern, gehöre zwangsläufig zu seinem Job, sagt Potthast, mache er aber auch gerne. „Ich verlange nicht wenig. Mein Ansatz ist: Ein klares Briefing geben, also die Richtung vorgeben und dann aus dem Weg gehen. Aber da sein, wenn es nötig ist. So lernen sie, selbständig zu arbeiten. Denn: Das sind ja alles schlaue Leute. Ich bin ja nicht schlauer, ich habe nur mehr Erfahrung.“ Teamwork und ein gesunder regelmäßiger Diskurs sind dem Wissenschaftler ebenfalls wichtig. Als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Biomechanik (DGfB) hat Potthast im September die DGfB-Jahrestagung an der Sporthochschule organisiert und abgehalten. Namhafte Biomechaniker*innen aus allen Teilen des Landes kamen nach Köln, um sich im Rahmen des zweitätigen Kongresses zu vernetzen. „Natürlich tauschen wir uns auf inhaltlicher Ebene aus, aber auch auf struktureller. Wissenschaft ist ja nicht nur der Zugewinn von neuem Wissen, sondern auch die Organisation dieses Wissens. Hier sind Konferenzen nicht ersetzbar“, sagt Potthast, dessen Amtszeit als DGfB-Präsident nach dem Kongress endete.  

Text: Lena Overbeck

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