In Weltrekordzeit gegen die Wand

Josia Topf  ist der aktuell erfolgreichste deutsche Para-Schwimmer in seiner Startklasse. Weil er keine Arme hat, schlägt er mit dem Kopf an. Wie sich diese Erschütterungen auf sein Gehirn auswirken, hat Jun.-Prof. Dr. Ingo Helmich untersucht. Er ist Experte auf dem Gebiet sportbedingter Gehirnerschütterungen.

Josia Topf hält den aktuellen Weltrekord über  50 Meter Schmetterling. Bei den diesjährigen internationalen Deutschen Meisterschaften in Berlin absolvierte der Para-Schwimmer die Strecke in 46,99 Sekunden und ist damit in der Startklasse S3 schnellster Schwimmer aller Zeiten. Athlet*innen, die in dieser Klasse antreten, schwimmen mit angemessenem Armzug, können aber weder Beine noch Rumpf benutzen und haben schwerwiegende Verluste an den vier Gliedmaßen. So wie Josia Topf. Der 20-jährige Weltrekordler hat das sogenannte TAR-Syndrom. TAR steht für Thrombocytopenia-Absent Radius Syndrome. Es ist ein erbliches Fehlbildungssyndrom und wird durch einen Gendefekt ausgelöst. Weil Josia keine Arme hat, muss er im Becken mit dem Kopf anschlagen. An der Wand ist kein Kissen oder eine andere Art von Aufprallschutz angebracht. Weil die Gefahr einer Kopfverletzung immer mitschwimmt, hat sich Josia an Jun.-Prof. Dr. Ingo Helmich gewandt.

Der Wissenschaftler der Deutschen Sporthochschule Köln ist Experte im Bereich sportbedingter Gehirnerschütterungen. In Erlangen, wo Josia trainiert, hat er Messungen mit dem Para-Schwimmer durchgeführt, um die Auswirkungen des Aufpralls auf Josias Gehirn zu untersuchen. „Was wir gemacht haben: Wir haben zunächst geschaut, wie schnell Josia im Wasser ist und wie hoch seine Beschleunigung an der Wand ist. Im nächsten Schritt haben wir jeweils vor und nach dem Impact, also dem Aufprall auf die Betonwand, seine Gedächtnisfunktionen gemessen  – in Form von Reaktions- und Wissenstests. Also: Verändert sich die Funktionalität auf kognitiver Arbeitsgedächtnis-Ebene?“, erklärt der Wissenschaftler des Instituts für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation.  Außerdem hat sich Helmich das nonverbale Bewegungsverhalten von Josia angeschaut.  Vorangegangene Studien des Wissenschaftslers konnten belegen, dass sich die Gesten von Sportler*innen mit und ohne Gehirnerschütterung unterscheiden. Zusätzlich wurde ein bildgebendes Verfahren zur Untersuchung der Sauerstoffversorgung im Gehirn angewendet, die sogenannte funktionelle Nahinfrarotspektroskopie. „Das haben wir dann alles in Beziehung zu den Messungen im Wasser gesetzt, also zu der Beschleunigung an der Wand“, erklärt der Wissenschaftler weiter. Insgesamt viermal schwamm Josia im Rahmen der Untersuchung gegen die Wand. „Was uns allen schon während der Messungen auffiel, war, dass Josias Sprache am Ende der Tests klar verändert war. Er hatte Wortfindungsschwierigkeiten und hat gelallt“, schildert Helmich seine Beobachtungen. Josia: „Es fühlt sich ein bisschen so an, als würde im Gehirn etwas auslaufen. Als würde ein Ei zerschlagen und das Eigelb läuft aus. Das ist natürlich Schwachsinn, da läuft nichts aus, aber so fühlt es sich an.“

Gehirnaktivität nimmt ab
Mittlerweile sind die Daten der Messungen ausgewertet und bestätigen die Eindrücke des Experten: „Josia hatte nach den Aufschlägen auf die Wand weniger richtige Antworten im Gedächtnistest bei gleichzeitig längerer Reaktionszeit. Im Moment des Anschlags an der Wand kommt es zu sehr hohen G-Kräften am Sensor, der an Josias Kopf angebracht ist. Man sieht, wie hoch die Beschleunigung am Kopf wirkt. Die erhöhte Kopfbeschleunigung führt zu Veränderungen der Symptomatik, zu einer reduzierten Antwortzeit und die Gehirnaktivität nimmt ab.“ Bei den Kontrollmessungen ohne Impact, also ohne Anschlagen gegen die Wand, konnten keine derartigen Veränderungen festgestellt werden. Mit diesem Wissen wollen Josia und sein Trainerteam nun an den Verband herantreten, um zu erwirken, dass Josia  bei Wettkämpfen mit einem Kopfschutz schwimmen darf. Ein generelles Verbot von Kopfanschlägen würde Josia, zumindest sportlich gesehen, nicht weiter bringen. „Im Training schlage ich mit der Schulter an. Durch das Wegdrehen des Kopfes verliere ich aber Zeit und hätte im Vergleich zu den Schwimmern mit Armen in meiner Startklasse einen noch größeren Nachteil“, erklärt der Jura-Student. Das Tragen eines Kopfschutzes ist aktuell aufgrund von Wettbewerbsvorteilen nicht zulässig – der Abstand zur Wand bzw. zum Anschlag würde sich durch einen Kopfschutz verringern. Um diesen vermeintlichen Vorteil möglichst gering zu halten, haben der Profischwimmer und sein Trainerteam getüftelt. „Im American Football tragen die Spieler unter ihren Helmen einen zusätzlichen Schutz aus dünnem Schaumstoff. Wir haben uns aus diesem Kopfschutz ein passendes Stück für Stirn und Oberkopf herausgeschnitten. Es ist nur sieben Millimeter dick und wird durch die Badehaube gehalten“, erklärt Josia. In einer Folgestudie soll Wissenschaftler Ingo Helmich nun die Wirksamkeit dieses Kopf-schutzes untersuchen. „Unser Ziel ist es, dass die Regeln bis zu den Paralympischen Spielen 2024 in Paris angepasst sind und ich mit Kopfschutz starten darf“, hofft Josia.

Text & Interview: Lena Overbeck

Interview mit Ingo Helmich

„Der Sport muss sich öffnen und proaktiv mit dem Thema umgehen. Dann gibt es auch weniger Leute, die langfristige Probleme haben.“

Herr Helmich, prominente Beispiele aus dem Profisport zeigen, dass Gehirnerschütterungen schwerwiegende gesundheitliche Konsequenzen haben können. Wo genau liegt die Gefahr?
Eine Gehirnerschütterung an sich stellt in der Regel kein großes Problem dar. Vorausgesetzt, sie wird richtig diagnostiziert und auskuriert. Gefährlich wird es, wenn Sportlerinnen und Sportler zu früh wieder in den Sport einsteigen und einen zweiten Schlag auf den Kopf bekommen. Das kann schwere Folgen haben. Ein Beispiel ist Stefan Ustorf. Der ehemalige Eishockeyspieler musste seine Karriere beenden, nachdem er eine erneute Gehirnerschütterung erlitt, ohne dass die Folgen einer vorangegangenen Kopfverletzung ausgeheilt waren.

Werden Gehirnerschütterungen im Sport unterschätzt?
Ja. Das Problem ist aber auch, dass eine Gehirnerschütterung auf den ersten Blick keine sichtbaren Spuren hinterlässt und es für medizinisches Personal sehr schwierig ist, innerhalb weniger Minuten eine wohldurchdachte Analyse der Situation und eine medizinische Diagnose zu stellen. Wir haben ein Analysetool entwickelt, das Gehirnerschütterungen früher diagnostiziert. Diese Methode, die funktionelle Nahinfrarotspektroskopie, ist ein bildgebendes Verfahren, das die Arbeitsweise des Gehirns nicht invasiv untersucht. fNIRS kann zeigen, dass Personen, die an den Symptomen einer Gehirnerschütterung leiden, bei bestimmten Gedächtnisaufgaben eine geringere Sauerstoffversorgung in bestimmten Hirnarealen aufweisen. Dieses Verfahren haben wir auch bei Josia angewendet.

In der Gehirnerschütterungs-Debatte rücken verstärkt auch Kopfbälle im Fußball in den Fokus. Wie sieht die Verteilung von Gehirnerschütterungen nach Sportarten aus?
Vorweg muss ich sagen, dass in Deutschland sehr lange gar keine Daten zur Verbreitung sportbedingter Gehirnerschütterungen vorlagen. Unser erstes Ziel war daher, vor allem die deutschlandtypischen Sportarten Fußball, Handball, Basketball und Volleyball zu betrachten. Das haben wir mittels einer Online-Umfrage mit 3.000 Sportlerinnen und Sportlern gemacht. 18 Prozent der Befragten gaben an, dass sie eine diagnostizierte Gehirnerschütterung in ihrer Sportart erlitten haben. Im Fußball sind es sogar 25 Prozent, im Handball 24, im Basketball 15 und im Volleyball 13 Prozent. Auffällig und auch kritisch ist, dass im Amateursport deutlich mehr Ereignisse stattfinden als im Profisport, wo ja gerade im Freizeitbereich nur äußerst selten eine medizinische Betreuung vor Ort vorhanden ist.

Mit Blick auf Ihre Studie mit Josia Topf: Was muss sich im Sport ändern, um die Athletinnen und Athleten besser zu schützen?
In erster Linie muss sich der Sport öffnen und proaktiv mit dem Thema umgehen. Dann gibt es auch weniger Leute, die langfristige Probleme haben. Der Standardsatz, den ich immer wieder zu hören bekomme, ist: Bei uns im Sport passieren keine Gehirnerschütterungen. Das ist Quatsch. Im Fall Josia wollen wir erreichen, dass er mit einem Kopfschutz schwimmen darf, um die Gefahr einer Hirnschädigung zu minimieren. Wir haben mit der funktionellen Nahinfrarotspektroskopie ein Verfahren entwickelt, dass bei der Diagnose einer Gehirnerschütterung hilft. Jetzt müssen die Vereine nur noch mitziehen.

Text & Interview: Lena Overbeck