Warum wir nachsichtiger mit uns selbst sein sollten

Eine schlechte Klausur geschrieben, fünf Kilo zugenommen, den entscheidenden Elfmeter verschossen oder den Job nicht gekriegt … Häufig gehen wir Menschen – gerade in der heutigen von Selbstoptimierung geprägten Leistungsgesellschaft – mit uns selbst sehr kritisch und abwertend um. Wenn wir Fehler machen oder Schwächen offenbaren, empfinden wir das als schlimme Makel. Man spricht hierbei von einem geringen Selbstmitgefühl. Bei Freunden und Familienmitgliedern sieht das meist anders aus, da reagieren wir verständnis- und rücksichtsvoll. Wir reden ihnen gut zu, trösten sie, sagen, dass so etwas jedem passieren kann. Genauso sollten wir uns auch uns selbst gegenüber verhalten, empfiehlt Dr. Johanna Belz, die in der Abteilung Gesundheit und Sozialpsychologie des Psychologischen Instituts zu Selbstmitgefühl forscht.

Selbstmitgefühl bedeutet, sich selbst mit Freundlichkeit, Verständnis und Fürsorge zu begegnen – besonders in schwierigen Momenten des Lebens – und mit den eigenen Schwächen und Fehlern nicht zu kritisch umzugehen. „Wir sollten uns vor Augen führen, wie wir in einer kritischen Situation mit einem guten Freund sprechen würden, welchen Ton wir anschlagen und was wir ihm raten würden. So mitfühlend, akzeptierend, tröstend, liebevoll und verständnisvoll können wir auch mit uns selbst umgehen.“ Als Sport- und Diplompsychologin betrachtet Johanna Belz den Zusammenhang von Selbstmitgefühl und mentaler Gesundheit. Dafür interessiert sie sich besonders, weil die Forschung zeigt, dass ein hohes Selbstmitgefühl mit einer guten psychischen Gesundheit zusammenhängt. Das Konzept von „Self-Compassion“ wurde vor ca. 20 Jahren von der US-Amerikanerin Dr. Kristin Neff entwickelt bzw. geprägt. Die Psychologieforschung in Deutschland befasst sich seit rund zehn Jahren damit.

Im Rahmen einer repräsentativen Umfrage („NRW-Athlet:innen for future“) erhob eine Spoho-Arbeitsgruppe (Jens Kleinert, Johanna Belz, Jana Beckmann und Wiebke Dierkes) bei NRW-Kaderathlet*innen, wie ausgeprägt das Selbstmitgefühl bei Leistungssportler*innen ist. 21 Prozent der befragten Athlet*innen weisen ein hohes Selbstmitgefühl auf, 53 Prozent ein moderates und jede*r vierte Athlet*in (26%) ein niedriges Selbstmitgefühl. Die letztgenannte Gruppe ist also in schwierigen Zeiten sehr kritisch mit sich selbst und geht weniger freundlich und fürsorglich mit sich um. Das Problematische: Viele Studien zeigen, dass ein niedriges Selbstmitgefühl mit psychischen Erkrankungen wie Essstörungen oder Depressionen einhergehen kann. Diese Beziehung konnten auch Belz und ihre Kolleg*innen bestätigen: Es zeigte sich ein negativer Zusammenhang zwischen Selbstmitgefühl und depressiven Symptomen; Athlet*innen mit einem niedrigen Selbstmitgefühl berichteten verstärkt depressive Symptome. Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Das Selbstmitgefühl lässt sich trainieren. „Es stellt einen positiven Bewältigungsmechanismus dar und kann auch präventiv auf unsere psychische Gesundheit wirken“, ist die Psychologin Johanna Belz überzeugt. Forschende verglichen verschiedene Studien, in denen die Teilnehmenden lernten, mehr Selbstmitgefühl zu entwickeln. Das Ergebnis: Solche gezielten Trainings halfen den Menschen dabei, die Selbstkritik zu reduzieren. In einer kanadischen Studie sollten sich junge Sportlerinnen negative Erlebnisse im Sport vorstellen, zum Beispiel, dass sie dafür verantwortlich sind, dass ihr Team einen Wettkampf verliert. Diejenigen mit mehr Selbstmitgefühl gaben an, dass sie in solchen Situationen eine positive Einstellung behalten, weiterkämpfen und Verantwortung übernehmen würden, die Situation zu verbessern. Das deutet darauf hin, dass Selbstmitgefühl dabei hilft, bei Rückschlägen dranzubleiben und sich weiter anzustrengen.

Die Ergebnisse, die Dr. Johanna Belz und ihre Kolleg*innen bei den Leistungssportler*innen in NRW fanden, möchte sie nun in Bezug zu weiteren Zielgruppen setzen, zum Beispiel mit Eltern von kleinen Kindern und Nicht-Sportler*innen vergleichen. Aktuell plant sie das Studiendesign dazu. In ihre Lehre im Master-Studiengang Psychology in Sport and Exercise hat die Dozentin das Thema Selbstmitgefühl schon vor einiger Zeit aufgenommen. Das stößt bei den Studierenden auf großes Interesse. „Die Studierenden sind sehr offen für das Thema und total interessiert an der Forschung dazu, vor allem an den Effekten, die Selbstmitgefühl auf unsere Gesundheit und auch auf unsere Leistung haben kann.“ Zu diesen Fragen führten mehrere Studierendengruppen im Rahmen des Masterprogramms eigene kleine Studien durch und untersuchten die Effekte von Interventionen. Sie fanden – zugegebenermaßen in sehr kleinen, nicht-repräsentativen Stichproben – heraus, dass Übungen zum Selbstmitgefühl studentischen Athlet*innen halfen, Stress zu reduzieren, und dass das Selbstmitgefühl in ästhetischen Einzelsportarten relevanter zu sein scheint als in Spielsportarten.

Text: Julia Neuburg