Nr. 5/2021

„Mit Sportmedizin bin ich groß geworden“

Im Jogger auf der Couch, in der einen Hand eine Cola, in der anderen eine Tüte Chips. Für viele Menschen der Inbegriff der Gemütlichkeit. „Dagegen ist grundsätzlich auch nichts einzuwenden“, sagt Sportmedizinerin Prof. Dr. Dr. Christine Joisten (ehemals Graf). „Aber“, betont sie, „es muss auch einen anderen Zustand geben.“ Die 53-jährige Wissenschaftlerin ist Expertin auf dem Gebiet der Lebensstilforschung. Besonders die Prävention und Therapie von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter hat sie sich auf die Fahne geschrieben. Seit 1996 arbeitet Christine Joisten bereits an der Deutschen Sporthochschule, angefangen im Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin. Seit 2008 leitet sie die Abteilung Bewegungs- und Gesundheitsförderung am Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft. So steht es zumindest auf dem Papier. Eigentlich gehört sie aber bereits seit ihrer Kindheit „zum Inventar der Spoho“. Prof. Dr. Dr. Christine Joisten über genetische Faktoren bei Übergewicht, ihre Leidenschaft für saftigen Kuchen und darüber, was wir aus der Forschung lernen können.

Frau Joisten, Sie haben vier Kinder: 25, 23, 21 und 19 Jahre alt. Kennen Sie den BMI Ihrer Kinder?

(lacht) Nein, aber er ist bestimmt gut.

Es ist jetzt 15:40 Uhr. Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen und was?

Gerade eben. Ich habe quasi noch die letzten Krümel im Mund. Einen sensationellen, matschigen Schokoladenkuchen, den meine Kollegin mitgebracht hat. Kuchen ist für mich am besten, wenn er innen drin schön saftig ist. Das hat sich hier in meiner Abteilung schon rumgesprochen.

Sie haben bis 1993 Medizin in Köln studiert und sind dann recht zügig, nach Ihrer Zeit als Ärztin im Praktikum und Assistenzärztin in der Inneren Medizin bzw. Kardiologie, 1996 an die Sporthochschule gekommen. Wann war für Sie klar, dass die Sportmedizin Ihr Fachgebiet wird?

Naja, das wurde mir ja quasi in die Wiege gelegt.

Sie meinen die Einflüsse Ihres Vaters?

Sie meinen die Einflüsse Ihres Vaters Richard Rost, der Sportmediziner an der Sporthochschule war und ab 1990 als Nachfolger von Wildor Hollmann das Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin geleitet hat?

Ja. Früher habe ich das alles kategorisch abgelehnt. Auf keinen Falls das Gleiche tun wie die Eltern. Und was habe ich gemacht? Medizin studiert! Tatsächlich war es dann für mich aber klar, als ich bei meinem Vater 1987 als studentische Hilfskraft angefangen habe. Ich habe damals schon immer sehr gerne an der Sporthochschule gearbeitet. Bis zu dem Zeitpunkt habe ich es aber noch kategorisch abgelehnt in die Wissenschaft zu gehen. Dass ich hier bin, wo ich jetzt bin, liegt auch leider daran, dass mein Vater viel zu früh gestorben ist. Mir ist nichts besseres eingefallen, als erstmal da zu bleiben, wo ich praktisch zuhause war.

Weil Ihr Vater Sie schon von klein auf mitgenommen hat?

Weil Ihr Vater Sie schon von klein auf mitgenommen hat?

Ja. Ich erinnere mich daran, dass er immer ein ‚Nuts‘ in seiner Schreibtischschublade hatte und wenn ich vom Kinderturnen aus Halle 1 kam, durfte ich mir den Schokoriegel rausnehmen. Wir waren auch bei den ambulanten Herzsportgruppen dabei und gehörten irgendwie mit zum Inventar der Sportmedizin. Es gibt eine legendäre Geschichte, die auch in den Hollmann-Memoiren steht, da muss ich fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein: Mein Vater kam vom Tischtennisspielen mit Wildor und ich habe "Holli" gefragt, wie alt er sei. „Über achtzig“, hat er gescherzt und gefragt, warum ich das wissen wolle. Daraufhin habe ich gesagt: „Weil Du dann bald stirbst und mein Papa dann Chef von dem Ganzen hier wird.“ Mein Vater entgegnete nur: „Nehmen Sie es dem Kind nicht übel, aber das hört sie jeden Morgen am Küchentisch.“ Mein Papa hatte so einen ehrlichen trockenen Humor. Für uns war die Spoho immer sensationell.

Auch Ihre Kinder sind an der Spoho „groß“ geworden. Tritt eins von ihnen in Ihre Fußstapfen?

Tatsächlich habe ich meine jüngste Tochter Toni das erste Mal mitgenommen, als sie vier Monate alt war. Damals habe ich eine Praxisvertretung übernommen. Als sie sechs Monate alt war, bin ich dann ganz miteingestiegen und ab dem Zeitpunkt sind dann auch alle mehr oder weniger mit da rumgekrabbelt. Aber natürlich wird auch das kategorisch abgelehnt. Ich warte mal ab.

Werden unsere Kinder wirklich immer dicker?

Einer Ihrer zentralen Forschungsschwerpunkte ist die Prävention und Therapie von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter. Werden unsere Kinder wirklich immer dicker?

Das ist eine ganz wichtige Frage. Offiziell, von der Epidemiologie her, befinden wir uns in Deutschland und in den westlichen Industrienationen auf einem Plateau. Wenn man sich aber einzelne Gruppen genauer anschaut, muss man leider feststellen, dass Übergewicht bei Kindern aus sozial schwachen Familien weiter steigt. Die aktuelle KiGGS-Studie hat gezeigt, dass Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischem Status rund viermal so häufig von Adipositas betroffen sind wie Kinder und Jugendliche mit hohem sozioökonomischem Status. (Anmerkung der Redaktion: Mädchen 8,1% vs. 2,0%; Jungen 11,4% vs. 2,6%).

Was kann die Forschung dagegen tun?

Wir können von der Realität lernen. Reagenzglasforschung funktioniert da einfach nicht. Natürlich können wir uns die zellulären und molekularbiologischen Mechanismen anschauen, die zu Übergewicht und Adipositas führen und Sport und Ernährung als Mittel heranziehen, um gegenzusteuern.  Aber das wahrscheinlich viel Wichtigere ist, dass die Politik Rahmenbedingungen für Bewegungsräume schafft und der Ernährungsindustrie mehr Transparenz in der Lebensmittelkennzeichnung abverlangt. Wenn Spielplätze mit Spritzen und Glasscherben verunreinigt sind, spielt da auch keiner. Diese Rahmenbedingungen müssen stimmen, damit Kinder gesund groß werden. Und das ist nicht nur eine Frage von dick oder dünn, sondern sie müssen im Herzen gesund sein.

Aus diesem Grund haben Sie vor vielen Jahren das CHILT-Projekt ins Leben gerufen …

Das war, abgesehen von einem kleinen Studien-Vorläufer, unser erstes Programm. Gestartet sind wir mit der Gesundheitsförderung an Grundschulen. Wir sind in die Grundschulen rein gegangen und haben zum Beispiel mit den Kindern gekocht, um frühzeitig ein Bewusstsein für einen gesunden Lebensstil aufzubauen. Relativ parallel dazu habe ich das Adipositas-Schulungsprogramm übernommen und von da aus haben wir uns dann weiterentwickelt in Richtung Kindergärten, Schwangerschaft und auch kommunale Gesundheitsförderung.

Woran arbeiten Sie aktuell?

Woran arbeiten Sie aktuell?

Was mich und meine Abteilung aktuell sehr umtreibt, ist das Thema Kompetenzerwerb. Wie können wir Kompetenzen fördern, die uns dazu befähigen zu wissen, was gut für uns ist. Das Thema Gesundheitskompetenz ist nicht neu, aber es ist wichtig. Heute spricht man auch gerne von ‚health literacy‘, ‚physical literacy‘ und ‚food literacy‘. Denn wenn ich weiß, was mir gut tut, dann ist es nicht mehr nur eine Debatte über gesundes Essen und mehr Bewegung. Dann weiß ich auch, wann ich mir etwas gönnen kann. Das eine sind wie gesagt die Rahmenbedingungen, die geschaffen werden müssen, und das andere ist die Förderung von innen heraus. Und natürlich ist für uns auch die andere Seite spannend, also auf Zellebene, was passiert denn mit den ganzen Entzündungsprozessen im Körper – gerade auch im Bereich der Schwangerschaft. Was sind langfristige Auswirkungen auf die metabolische Gesundheit etc.

Sie meinen die aktuelle ADEBAR-Studie?

Ja. Studien bestätigen, dass die meisten Kinder und Jugendlichen mit Übergewicht auch noch im Erwachsenenalter zu viele Kilos mit sich herumschleppen. Aber bekommen dicke Erwachsene auch dicke Kinder? Das wollen wir herausfinden und nehmen die Phase der Schwangerschaft in den Blick. Die Wissenschaft weiß mittlerweile, dass Übergewicht und Adipositas durch ein Wechselspiel aus genetischen Faktoren und den Lebensstil beeinflusst werden. Im Fokus unserer Studie stehen die sogenannten Adipokine. Das sind Biomarker, die zum Beispiel die Nahrungsaufnahme, das Körpergewicht und den Stoffwechsel regulieren. Das Projekt untersucht, ob und wie sich diese Biomarker durch das Bewegungs- und Ernährungsprogramm verändern und somit die Entstehung von Adipositas beeinflussen.

Was wäre aus Ihrer Sicht ein optimaler Lebensstil?

Was wäre aus Ihrer Sicht ein optimaler Lebensstil?

Puh, das ist schwer zu beantworten. Ein Lebensstil, der optimal dafür sorgt, dass ich vernünftig und gesund, selbstbestimmt alt werden kann. Dazu kann Bewegung zu beitragen, gesunde Ernährung, guter Schlaf, Nikotinverzicht und so weiter. Um das zu erreichen, benötigen wir eine personalisierte Lebensstilmedizin und da sind wir wieder beim Thema Kompetenzerwerb. Man kann nicht sagen, wer 10.000 Schritte am Tag geht, lebt gesund. Und wer 10.100 geht noch gesünder? Gesundheit lässt sich nicht beziffern.

Was können Sie, was kann die Forschung dazu beitragen, um diese personalisierte Änderung des Lebensstils herbei zu führen?

Ich denke, in dem wir als Betreuer und Betreuerinnen selbst kompetenter werden. Am Ende geht es nicht um Kraft- oder Ausdauertraining, sondern darum, was Spaß macht, was die Menschen gerne tun. Wir müssen den Druck rausnehmen und klare Botschaften senden. Wenn der eine sagt, High-Intensity-Training ist besser und der andere, kontinuierliches Ausdauertraining ist besser, dann mag das jeweils stimmen auf einer Ebene. Wenn es aber zu kompliziert wird, dann lassen die Leute es ganz. Dabei sind Sport und Bewegung ein fantastisches Vehikel, das Menschen helfen kann, sich gut zu fühlen. Wir sollten es besser nutzen!

Was muss die Politik tun, um die Rahmenbedingungen zu verbessern?

Verbinden Sie mit der Bundestagswahl einen Wunsch, was die Politik ändern müsste, um die bereits angesprochenen Rahmenbedingungen zu verbessern?

Im Grunde genommen ist es banal: Wenn wir viel Fleisch essen, ist das ungesund und es wird CO2 freigesetzt. Wenn wir Auto statt Fahrrad fahren, bewegen wir uns zu wenig und es nicht gut für die Umwelt. Gesundheit und Klima sind direkt miteinander verbunden. Die Lebensmittelindustrie, Sportraumentwicklung und so weiter inbegriffen – all das gehört zusammen und wirkt sich auf unseren Lebensstil aus. Ich wünsche mir, dass das mehr in den Fokus der Parteien rückt.

Sind Sie selbst sportlich aktiv?

Ja, aber ich kann‘s nicht. Ich gehe regelmäßig mit meinem Hund joggen. Letztens hat mich eine Spaziergängerin angesprochen und gesagt, sie wisse jetzt, warum das bei mir so komisch aussähe: „Sie haben die falsche Walking-Technik.“ Stimmt – ich jogge ja auch … So in etwa kann man sich das bei mir vorstellen. Aber es hält mich trotzdem nicht davon ab, weil ich weiß, dass es mir guttut. Und jetzt werde ich noch ein kleines Stückchen matschigen Schokokuchen essen, das habe ich mir verdient!

Interview: Lena Overbeck

Kurz-Vita

Werdegang & Mitgliedschaften

Werdegang:

  • Seit 5/2008 Leiterin der Abteilung III Bewegungs- und Gesundheitsförderung am Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft der DSHS
  • 2002 bis 2008 Oberärztin am Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin an der DSHS
  • 1996 bis 2002 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin an der DSHS

Ausbildung:

  • 05/2011 Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin
  • 2006/2007 Habilitation
  • 2000 bis 2005 Sportwissenschaftliche Promotion
  • 1991 bis 1995 Medizinische Promotion
  • 1994 bis 1995 AIP/Assistenzärztin Medizinische Klinik III (Kardiologie) an den Universitätskliniken Köln
  • 1993 bis 1994 AIP Martha Maria Krankenhaus Nürnberg/Innere Medizin
  • 1986 bis 1993 Studium der Humanmedizin an der Universität zu Köln

Mitgliedschaften in Fachgesellschaften:

  • Deutsche Diabetes Gesellschaft; AG Diabetes und Sport
  • European Association in Cardiovascular Prevention and Rehabilitation
  • Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin
  • Deutsche Adipositasgesellschaft; Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter
  • Gesellschaft für pädiatrische Sportmedizin
  • Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention; Sportärztebund Nordrhein