Nr. 5/2021

ParaGym: Fitnessapp für querschnittgelähmte Menschen

Fitnesstracker und Trainingsapps boomen. Sie messen die Vitalparameter der Trainierenden, steuern das Training, motivieren die Sportler*innen. Doch Fitnessbegeisterte mit einer Querschnittlähmung können aktuell nur bedingt davon profitieren, denn die meisten Angebote entsprechen nicht den Anforderungen von querschnittgelähmten Menschen. Ein Forschungsprojekt, an dem die Abteilung Präventive und rehabilitative Sport- und Leistungsmedizin des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin der Deutschen Sporthochschule Köln beteiligt ist, möchte das ändern. Das Ziel ist, einen virtuellen, interaktiven Fitnesscoach für querschnittgelähmte Menschen zu entwickeln, genannt ParaGym.

Ca. 140.000 Menschen haben in Deutschland eine Querschnittlähmung, ein Teil ihres Körpers ist aufgrund einer Rückenmarksverletzung gelähmt. Unterschieden werden Querschnittlähmungen nach der Höhe des Rückenmarksschadens; ca. zwei Drittel sind Paraplegiker*innen, bei ihnen sind die Beine von der Lähmung betroffen, während die Funktionen der oberen Extremitäten nicht eingeschränkt sind. Studien zeigen, dass Paraplegiker*innen deutlich seltener sportlich aktiv sind als Menschen ohne Behinderung. Das hat nicht nur mit strukturellen Hindernissen zu tun, sondern liegt häufig auch in der Sorge begründet, beim Training etwas falsch zu machen. Genau hier setzt ParaGym (vorheriger Projektname: FIT-IN³) an.

„ParaGym ist ein innovativer und intelligenter Fitnesscoach, der querschnittgelähmten Menschen erstmals ein individuelles, eigenständiges Training ermöglichen soll. Das Projekt besteht aus einer Fitness-App für Smartphones, einer dazugehörigen Server-Anwendung zur Datenanalyse und einem neuartigen Sensorshirt“, fasst Janika Bolz zusammen, die an der Sporthochschule das Verbundprojekt gemeinsam mit Institutsleiter Univ.-Prof. Hans-Georg Predel koordiniert. Drei weitere Partner sind beteiligt: die Kernwerk GmbH, Technologieanbieter und Verbundkoordinator, das Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme (IAIS) und die ITP GmbH – Gesellschaft für Intelligente Textile Produkte. Die Deutsche Sporthochschule Köln ist in erster Linie für die sportwissenschaftliche Expertise zuständig, hat ein Gesundheitskonzept und einen Übungskatalog entwickelt. Das Projekt läuft nun seit einem Jahr und hat schon gute Erfolge zu verzeichnen. In den nächsten Wochen stehen die ersten Praxistests mit Proband*innen an.

Daten in Echtzeit ins Training integrieren

Das Sensorshirt, ein besonderer Teil des virtuellen Fitnesscoachs, wird durch die ITP GmbH - Gesellschaft für Intelligente Textile Produkte im Rahmen des Projektes entwickelt. Es handelt sich dabei um ein Funktionsshirt, in das an bestimmten Stellen Sensoren eingearbeitet sind. Diese können Vital- und Bewegungsparameter der trainierenden Person messen, drahtlos an die Smartphone-App übertragen und in Echtzeit in die Trainingssteuerung der App integrieren. „Die Sensoren können beispielsweise den Puls während eines Workouts tracken und so die individuelle Belastung des Körpers überwachen“, erklärt Janika Bolz an einem konkreten Beispiel.

An dieser intelligenten Datenverarbeitung arbeitet das Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme. „Wir arbeiten an der Schnittstelle von Hardware und Software und beschäftigen uns mit der Frage, wie wir mit Hilfe der Sensordaten einen Mehrwert für das Trainingserlebnis schaffen können. Aus den Daten sollen sinnvolle Aussagen und Hinweise abgeleitet werden, die die Nutzer*innen beim Training mit der App unterstützen“, erläutert Projektmitarbeiter Dr. Kilian Nickel. Anhand der Bewegungsparameter sollen etwa Hinweise zur korrekten Bewegungsausführung gegeben werden, um das Training sicherer und effektiver zu gestalten. „Die Bewegungssensoren können zum Beispiel messen, ob eine Übung sehr ruckartig oder mit unsymmetrischer Belastung ausgeführt wird. Die App kann der trainierenden Person dann eine entsprechende Rückmeldung geben“, verdeutlicht Kilian Nickel an einem Beispiel. Eine weitere Idee des Projektteams: eine Gestensteuerung über die Bewegungssensoren. „Um im Workout in der App zur nächsten Übung zu springen, wird üblicherweise mit dem Finger auf das Handydisplay getippt. Über die Sensorik am Körper wäre es auch möglich, dies mit einer definierten Geste zu steuern. Und man könnte die Sensoren auch dazu nutzen, Wiederholungen und Übungen automatisch zu zählen“, nennt Kilian Nickel weitere mögliche Funktionen. Welche dieser Ideen umgesetzt werden, wird sich noch im weiteren Projektverlauf zeigen und ist auch abhängig vom Feedback der Proband*innen. Letztlich sei das Sensorshirt als Add-on konzipiert und die App auch alleinstehend nutzbar. Bei allen Ideen orientiert sich das Projektteam unter anderem am Marktgeschehen und an den Trends des Onlinefitnesssektors; an erster Stelle stehen jedoch die potentiellen Nutzer*innen, die auf verschiedene Weise direkt in den Designprozess eingebunden sind.

Lernender Algorithmus

Damit die Rohversion am Projektende (Februar 2023) den Vorstellungen der Zielgruppe entspricht, hat das Projektteam rund 100 querschnittgelähmte Menschen nach deren Wünschen, Erfahrungen und Anforderungen gefragt. Verschiedene Institutionen aus dem Parasport halfen bei der Verteilung der Umfrage und sorgten so dafür, dass eine belastbare Anforderungsanalyse für die Entwicklung von ParaGym vorliegt. Mehr als zwei Drittel der Befragten gaben an, vor der Querschnittlähmung Sport getrieben zu haben. Ebenfalls zwei Drittel haben schon einmal eine Fitness-App genutzt; die allermeisten vermissten dabei aber den speziellen Zuschnitt auf ihre individuellen körperlichen Fähigkeiten. Als größte Herausforderung bei körperlicher Aktivität empfinden die meisten Befragten ihre eingeschränkte Rumpfkontrolle, Spastik, Schmerzen und Temperaturregulationsstörungen.

Zuständig für die App von ParaGym ist die Kernwerk GmbH. Das Unternehmen mit Sitz in Köln hat sich bereits auf dem Markt mit einem erfolgreichen Produkt etabliert: einer Functional Fitness App für Fitnessbegeisterte. Das Konzept von Kernwerk soll nun im Rahmen des Projekts auf die Anforderungen von Paraplegiker*innen übertragen werden. Kern der App ist ein innovativer Algorithmus, der das Training individuell an die Tagesform und an das Equipment anpasst. „Durch das Feedback nach jedem Training lernt unser Algorithmus dein Fitnesslevel immer besser kennen und passt die Daily Workouts auf deine Stärken und Schwächen an“, heißt es bei Kernwerk. Genauso soll auch die weiterentwickelte Version für querschnittgelähmte Menschen funktionieren, die die körperlichen Voraussetzungen bzw. Einschränkungen (zum Beispiel Lähmungsmuster), die Leistungsfähigkeit bzw. Tagesform und das Equipment der Nutzer*innen einbezieht. Ein Ziel des Trainingsprogramms mit der App ist, dass die Nutzer*innen vor jedem Training einzelne Körperpartien ausschließen können, die an dem Tag beispielsweise schmerzhaft sind oder einen hohen Muskeltonus haben. Ein Team aus Trainer*innen und Sportwissenschaftler*innen erstellt für jeden Tag ein neues „Daily Workout“. Nach dem Training können die Nutzer*innen jede Übung bewerten; diese individuellen Einstellungen und der lernende Algorithmus sorgen dann dafür, dass das Training stets angepasst und personalisiert wird. 

Praxistests mit Proband*innen

Nach einem Jahr Projektlaufzeit erlebt das Team im Herbst 2021 die erste Feuertaufe: Live vor Ort an der Sporthochschule finden an drei Terminen im Oktober und November die ersten Workshops statt, im Rahmen derer 15 Proband*innen die ersten Übungen, das Sensorshirt und die App testen werden und für weiteres Feedback zur Verfügung stehen. „Das ist ein spannender Zeitpunkt des Projekts, wir haben die erste Entwicklungsschleife abgeschlossen. Jetzt wird sich zeigen, ob unser Basis-Übungskatalog mit etwas mehr als 50 Übungen und den dazugehörigen Beschreibungen und Videos funktioniert. Wir werden bei den Tests Daten erheben, auswerten und daraus dann ableiten, was wir noch am Sensorshirt, Trainingsalgorithmus und an der Datenverarbeitung verbessern können. Daran schließt sich der zweite Entwicklungszyklus an“, nennt Janika Bolz die nächsten Schritte. Im kommenden Jahr werden dann Trainingsstudien zum Übungskatalog durchgeführt. Am Projektende soll ein Demonstrator stehen, der langfristig zu einem kommerziellen Produkt weiterentwickelt und als solches vertrieben werden kann. Projektmitarbeiterin Janika Bolz betont: „Körperliche Fitness ist insbesondere für Rollstuhlfahrende von essenzieller Bedeutung. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass sich Querschnittgelähmte mobil und selbständig im Alltag bewegen können. Regelmäßiges sportliches Training kann sich zudem positiv auf Begleiterscheinungen von Paraplegie auswirken, zum Beispiel Spastik, Schmerzen oder Depressionen.“

Text: Julia Neuburg